Franzobel: Das Floß der Medusa»Es war nur eine ruhige Strecke entlang der Küste Richtung Afrika. Aber die See war weiblich, unberechenbar, konnte wie seine Frau von einem Moment auf den nächsten die Stimmung wechseln, aus der friedlichsten Ruhe ins Toben kommen, Charliiiiie brüllen.«

Aber was zu dem Schiffbruch und den grauenvollen Ereignissen führte, war nicht die weibliche See, sondern ganz einfache männliche Überheblichkeit, Dummheit und Arroganz. Denn der Kapitän der Medusa, den Franzobel einen »affektierten Geck« nennt, hatte wohl den größten Anteil an dem furchtbaren Desaster, das der Österreicher in einen meisterhaft fabulierten, grotesken und wortgewaltigen historischen Roman gegossen hat. Aber was genau war passiert?

Ende Juni 1816 bricht eine kleine Flotte von Frankreich auf, um koloniale Gebiete im Senegal und in Gambia nach dem Sturz Napoleons wieder für die französische Krone in Besitz zu nehmen. Geführt wird das Geschwader von eben dem total unfähigen, aber adeligen Kapitän des Flaggschiffes Medusa, der damit seine erste Seereise absolviert.

An Bord dieser Fregatte sind ca. 400 Menschen: Matrosen, Soldaten, Handwerker, ein paar Auswanderer, Kaufleute mit Familien und der neue Gouverneur nebst einem Stab von Verwaltungsbeamten. Ungeduldig, endlich seinen neuen Posten antreten zu können, drängt der Gouverneur den Kapitän dazu, den kürzesten Weg einzuschlagen, der über ein bekanntes Seegebiet voller Untiefen und Sandbänke an der Ostküste Afrikas führt, während die anderen Schiffe eine sicherere Route wählen. Natürlich läuft die Fregatte dort auf Grund und ist nicht wieder flott zu kriegen, unter anderem weil der Kapitän die schönen Kanonen nicht über Bord werfen will.

Die Medusa selbst steckte im Sand wie ein Frühstücksei im Becher – es war nur eine Frage der Zeit, bis sie zerschlagen wurde.

Wie es sich für ein ordentliches Schiffsunglück gehört, reichen die Bei- und Rettungsboote nicht für alle Menschen an Bord aus. Also wird aus den Rahen und Masten ein riesiges Floß zusammengezimmert. Der Plan ist, es mit den Rettungsbooten bis zu der vielleicht 80 Seemeilen entfernten Küste zu ziehen. Man braucht nicht besonders viel Esprit, um sich vorzustellen, wer ein Platz in einem der Boote bekommt und wer auf das Floß muss.

Die Rahen sind schwer und haben nur wenig Auftrieb, die 150 Menschen, die auf das Vehikel beordert werden, stehen bis zur Hüfte im Wasser. Als die aufgelaufene Fregatte auseinander zu brechen droht, gibt der Kapitän den Befehl zum Verlassen des Schiffes und besteigt als einer der ersten das größte Beiboot. Dann werden alle Boote hintereinander mit dem Floß vertäut, die Ruderer geben alles und es tut sich … nichts. Das Floß ist viel zu schwer. Also werden die Leinen gekappt und die 150 Flößer dem Treiben der See überlassen, mit ein paar Pfund Zwieback, einem Fass Wasser und zwei Fässern Wein. Nur fünfzehn werden die knapp zwei Wochen überleben. Während sich die Adeligen und Kaufleute von ausgesuchten Seeleuten an Land rudern lassen, stehen die Soldaten, Matrosen und Handwerker im Atlantik und wissen nicht was sie tun sollen.

Rings um sie herum war nur Meer. Eine sich hebende und senkende graublaue, aber gleichgültige Fläche unter einem hellblauen Himmel. Eine majestätische Pracht, ein unendlicher blauer Acker mit Silberschlieren.

Aber es sind auch einige Offiziere darunter und der Wundarzt Henri Savigny, dem wir den schriftlich niedergelegten Augenzeugenbericht verdanken, auf den sich Franzobels Roman bezieht. Und bei aller Fabulierkunst und den mit großer schelmischer Lust wunderbar plastisch dargestellten Personen hat sich der Autor ziemlich genau an diese grausamen Aufzeichnungen gehalten. Denn schon nach der ersten Nacht sind weniger Menschen an Bord als vorher. Sie werden verrückt vor Durst und Hunger, werfen sich gegenseitig ins Meer, massakrieren sich, schlachten sich ab, zerschlagen die Wassertonne, werfen den Zwieback ins Meer. Ein paar erobern ein Weinfass, werden mit dem Tode bestraft. Als der Hunger allzu groß wird, werden die Toten zerlegt. Bei denen, die noch moralische Bedenken haben, überwiegt die Angst, denn »wenn ich nichts esse, werde ich schwach und dann bin ich der nächste Happen«.

Soweit die Geschichte, wie sie sich wirklich zugetragen hat. Franzobel hat daraus einen ganz wunderbaren Seefahrer-Roman gemacht, der nebenbei das Leben an Bord brillant und drastisch beschreibt.

Er war zwischen schrecklichen Menschen gelandet – lieblose, rohe Burschen. Kaltherzig, derb und auf dem kulturellen Stand von Zuckerrüben.

Der Autor benutzt ein großes Figurenensemble, dem er auf seine ganz eigene Art und Weise Leben einhaucht. Da ist der naive Schiffsjunge, der sadistische Koch und sein Untergebener, der tumbe Kapitän und sein hochstaplerischer Freund, die drei fetten Schwestern, der arroganten Gouverneur, der treue Seemann, die Adelstochter mit dem Feuermal, der »Negersoldat«, der skurrile Matrose. Und es bleibt sogar noch Platz für eine zart angedeutete Liebesgeschichte. Franzobel ist mit dem Roman wirklich ein famoses Stück Unterhaltung gelungen.

Das vermeidbare Schiffsunglück der Medusa wurde im frühen 19. Jahrhundert in ganz Europa als Sinnbild auf die herrschenden politischen Verhältnisse diskutiert und in vielen künstlerischen Werken verarbeitet, wobei das berühmteste sicher das hochdramatische Gemälde »Das Floß der Medusa« des Malers Théodore Géricault ist. Wer sich für die wahre Gesichte hinter dem Roman interessiert, dem empfehle ich die Original-Aufzeichnungen von Henri Savigny und Alexandre Corrèard aus dem Jahre 1818.

Franzobel: Das Floß der Medusa | Deutsch
btb 2019 | 592 Seiten | Jetzt bestellen