»Die Wüsten von Afrika, die seit dem 16ten Jahrhunderte keinen Schnee mehr gesehen, waren schuhhoch damit bedeckt und die Bewohner von Bordeaux, von Toledo und von Sevilla hatten das seltene Vergnügen, auf den erstarrten Fluten der Garonne, des Tajo … sich im Schlittschuhlaufen zu üben.
Wie die angehängte Übersicht zeigt, war der Winter 1829 á 1830 einer der fürchterlichsten und längsten, der die Menschheit betrübten. Auch war die Not so groß, doch auch die Hilfe stellte sich großherzig ein und Gaben an Geld, Kleidung und Holz flossen reichlich den Armen zu. Alle Vergnügen wurden eingestellt und die dazu bestimmten Kosten den Armen zugewendet.«
So beschrieb der Bankier Franz Simon Meyer aus Baden im Dezember 1830 den vorherigen Winter, der lang und mit bis zu -31 Grad Celsius bis dato einer der kältesten in seinem Leben gewesen sein muss. In seinem »gleichgültigen« Leben, das der 1799 in Rastatt geborene Bankier von 1816 – 1871 aufschrieb. Und uns damit die wunderbare Möglichkeit eröffnet, 55 Jahre eines Menschenlebens im 19. Jahrhundert aus nächster Nähe zu erleben.
Die Rückschau eines jeden Jahres beginnt Meyer meist mit dem Wetter. Beschreibt eisekalte Winter, verregnete oder heiße Sommer (1842/37,5 Grad) mit Dürreperioden »bis in den Oktober hinein« und deren Auswirkung auf die Preise für Korn, Kartoffeln und Wein. Berichtet von einem roten Polarlicht, das am 7. Januar 1831 um 9 Uhr Abends am Himmel zu sehen war. Dann folgt ein kurzer Bericht der politischen Weltlage. Und spätestens hier kann man sich dem Bann der geschichtlichen Ereignisse nicht mehr entziehen, den Erzählungen eines Menschen, der dabei war, eines »Zeitgenossen«, der die Dinge nicht nur so schildert, wie er sie in der Zeitung gelesen haben mag. Franz Meyer hatte durch seine Tätigkeit als Bankier einen großen Freundes- und Bekanntenkreis, der sich wegen der »Heilbäder« in Baden aus gutsituierten Europäern zusammensetzte.
Vom Weltgeschehen kommt er dann schnell zur verstorbenen Ehefrau, deren Tod ihn noch über die Heirat mit einer neuen Frau hinaus schmerzte. Kinder sterben an Krankheiten wie Diphtherie, Typhus und Tuberkulose, und man bedankt sich innerlich, das wir heute davon ebenso verschont sind, wie von den Kriegen, die im damaligen Europa immer wieder ausgefochten wurden.
Im Nahen Osten hat sich, wie’s scheint, nicht viel geändert, es sah im Prinzip aus wie heute: »Während grausame Naturereignisse ganze französische Landstriche verheerten, während der Krieg in Syrien blühende Städte zerstörte, während alle Völker sich zum Kampfe rüsteten, blieb nur Deutschland unberührt.« Und »im Osten wächst riesengroß Russlands furchtbarer Coloss«, bis Russland, »nachdem es viele andere Staaten zertrümmert, an seiner eigenen Größe untergeht«, wie er unkt.
Franz Simon Meyer ärgert sich über die Eisenbahn und die Spekulanten; freut sich 1839 über die Anfänge der Fotografie, der »LichtZeichnung« mittels eines Daguerreotype; erwähnt erste Dampfschiffe auf der Donau; berichtet von gewaltigen Kanalbauten und erwähnt die erfolgreiche Fahrt eines großen Ballons, der »Eisenbahn und Kanalbauten wohl überflüssig machen könnte«.
Durchdrungen von dem Wunsch und der Hoffnung auf ein vereinigtes Deutschland beschreibt Meyer die gleichen Bestrebungen in Italien, wo die Bürger ebenso unter der Zersplitterung ihres Landes litten. Einen großen Teil des Buches aber nehmen die Revolutionsjahre 1848/49 ein. Und hier werden die Aufzeichnungen interessanter als viele historische Romane oder Geschichtsbücher. Denn es berichtet ein Zeitzeuge, der als Reaktionär und überzeugter Monarchisten aus heutiger Sicht wohl auf der falschen Seite stand. Erzählt, wie er sich nach den ersten Unruhen in einer Versammlung im März 1848 für den Großherzog von Baden eingesetzt und dafür als »VolksVerräther« beschimpft wurde.
Auch hat er manches Zeitdokument seinem großen Buch beigelegt, wie etwa die Forderungen der »Hohen Zweiten Kammer der Badischen Stände« nach »Preßfreiheit« und der »Herstellung eines teutschen Parlaments«. Und die Entgegnung des Großherzogs, in der die »irregeleiteten« Aufständischen des Hochverrats bezichtigt werden und wegen der Umstände eine provisorische Verordnung erlassen wird. In der sich der Monarch das Recht nimmt, das Kriegsrecht zu verhängen, mit allen Konsequenzen, die sich daraus ergeben. Wo etwa die Verbreitung von (heute nennen wir sie) Fake News, ebenso unter Strafe steht, wie das »Verleiten der Soldaten zur Untreue«.
Es folgen Verhaftungen der Rädelsführer, was wiederum bei den »Aufrührern« gar nicht gut ankommt und man kann durch die Schilderungen Meyers hautnah miterleben, wie die Situation immer weiter eskaliert. Bis die ersten Schüsse fallen und sich Revoluzzer und Armee gegenüber stehen. Die Bezeichnung »Wutbürger« bekommt eine ganz neue Dimension, als Städte von bewaffneten Freischärlern besetzt und mit Kanonen von den Soldaten wieder »befreit« werden.
Und mittendrin der Bankier Franz Simon Meyer, der alles aufgeschrieben hat. Wie die Revolutionäre in sein Haus einquartiert werden, wie Menschen gelyncht werden, wie er plötzlich nicht mehr nach Hause zurückkehren kann, weil die Stadt belagert wird, wie er mit ansehen muss und vor Angst fast verrückt wird, wie die Stadt bombardiert wird, in der seine Familie festsitzt.
Als alles vorbei ist, wird aufgeräumt. Den Rädelsführern, sofern sie nicht in die Schweiz oder nach Amerika geflohen sind, der Prozess gemacht und nicht wenige erschossen. Leute werden verhaftet, wenn sie Sympathien für die Revolution äußern, andere ohne Prozess weggesperrt, Zeitungen verboten und die Steuern angehoben, eben das ganze Arsenal totalitärer Macht, und so schreibt Meyer am 11. September 1849: »Wir leben hier in einer Atmosphere von Blut.«
Nach der Lektüre der »ganzen Geschichte meines gleichgültigen Lebens« weiß man mehr. Mehr vom Deutschen Bürgerkrieg, der 1848/49 nicht nur auf den Barrikaden in Berlin ausgefochten wurde und vielen tausend Menschen das Leben kostete. Mehr über eine Gesellschaft, die mit Waffengewalt für ihre Freiheit kämpfen musste, und darüber, wie die Fürsten mit allen Mitteln ihre alte Ordnung verteidigten – und siegten. Ein sehr lehrreiches Buch über ein wichtiges Kapitel deutscher Geschichte.
Allen, die sich entschleunigen möchten, die sich informieren, die vergleichen und die etwas über Deutsche Geschichte und den schweren Weg der Einheit unseres Landes wissen möchten, sei dieses Buch wärmstens empfohlen.
Franz Simon Meyer: Die ganze Geschichte meines gleichgültigen Lebens
Band 2: 1829 – 1849. In Zeiten der Revolution | Hrsg. Sebastian Dizol | Deutsch
Solivagus Praeteritum 2017 | 559 Seiten | Jetzt bestellen