Frank Schätzing: Der Schwarm»Na ja, es ist der Kerngedanke fast aller indianischen Kulturen. Die Nootka reklamieren ihn für sich, aber ich schätze, anderswo sagen die Menschen dasselbe in anderen Worten: Alles ist eins. Was mit dem Fluss passiert, passiert mit den Menschen, den Tieren, dem Meer. Was einem geschieht, geschieht allen.«

»Stimmt. Andere nennen es Ökologie.«

Der Wissenschaftler Leon Anawak hat eigentlich mit seinem indianischen Erbe gebrochen, aber als er mit unerklärlichen Verhaltensstörungen von Walen konfrontiert ist und nicht mehr weiter weiß, wendet er sich ratsuchend an ein Mitglied seines Stammes. Anawak erkennt in dessen Antwort – in dem Gedanken, dass alles mit allem verbunden ist – schlicht das erste Gesetz der Ökologie, und sieht zunächst nicht die weiteren Implikationen, wie etwa den buddhistischen Gedanken, dass es, wenn alles eins ist, keine Individuen gibt, sondern nur Leben an sich, unabhängig von den einzelnen Erscheinungsformen, in denen es sich manifestiert.

Einerseits folgt aus diesem Gedanken der Schluss der deep ecology, dass die Menschheit nicht mehr Anspruch hat, ihr eigenes Überleben zu sichern als eine unscheinbare Blume am Wegesrand oder eine Bakterie in einer Pfütze. (Wie Anawak später schmerzlich feststellt, gilt dann auch ein einzelnes menschliches Exemplar nicht mehr als ein anderes.)

Ähnlich wie T.C. Boyles »A Friend of the Earth« wirft also auch »Der Schwarm« die Frage auf, ob es nicht besser wäre für die Erde, wenn die Menschheit ausstürbe. Oder zumindest damit aufhören würde, ihre eigene Lebensform als die mit der größten Existenzberechtigung anzusehen. Andererseits ergibt sich daraus noch eine weitere Schlussfolgerung: Die Menschheit ist ebenfalls Teil von allem anderen, warum also sollte sie nicht mitgerettet werden? Es ist genau dieses Argument, das den Menschen in Schätzings Roman am Ende einen Ausweg bietet.

Im ersten Teil des Buchs wird auf sehr realistische Art geschildert, wie eine Umweltkatastrophe sich aufbaut, die im Meer ihren Ursprung nimmt und schließlich Europas Küsten mit Flutwellen überzieht. Gleichzeitig häufen sich in der restlichen Welt die Anzeichen, dass die Natur im Meer aus dem Ruder läuft: Würmer, die es zuvor nicht gab, knabbern die Unterseegebirge an, Krebse krabbeln in Scharen aus dem Wasser und bringen tödliche Erreger an Land und Wale greifen als Selbstmordattentäter plötzlich Menschen an. (Mit den Walen schlägt Schätzing eine sehr schöne Brücke zu »Moby Dick« und der gar nicht so unähnlichen ökologischen Thematik von Melvilles Roman, die oft verkannt wird.)

Aus der Perspektive sehr unterschiedlicher Charaktere, die die Auswirkungen der Katastrophen zu spüren bekommen, wird der Gedanke greifbar, dass alle davon betroffen sind und sich keiner entziehen kann, egal ob es der arme kleine Fischer oder ein mächtiger Politiker ist.

Nachdem Europa am Rande des Zusammenbruchs steht, übernimmt es die Weltmacht USA, ein internationales Team von Wissenschaftlern zusammenzubringen, um die Ursache der rätselhaften Anomalien im Meer herauszufinden. Die USA wären aber nicht die USA, wenn es ihnen nicht in erster Linie darum ginge, ein Mittel zur Bekämpfung der wildgewordenen Natur zu finden, um so die Vormachtstellung Amerikas in der Weltpolitik zu sichern. So spiegeln sie in diesem Roman den Fehler der Menschheit: Lieber ein toter Planet, auf dem die USA die größte Macht hat, als ein lebender Planet, auf dem die USA eine untergeordnete Rolle spielt oder gar nicht mehr existiert.

Mit vereinten Kräften werden die Wissenschaftler fündig und stellen fest, dass die Umweltkatastrophen nicht, wie von den USA vermutet, von Terroristen inszeniert wurden, sondern von einer Lebensform in der Tiefsee, einem Kollektiv aus Einzellern, das nicht nur älter ist als die Menschheit, sondern ihr auch an Intelligenz überlegen, dem zudem menschliche Werte vollkommen fremd sind und das schlicht beschlossen hat, die Menschheit auszulöschen, weil ihre Verschmutzung das Überleben der Weltmeere gefährdet. Die USA wollen gegen die Bedrohung aus der Tiefsee natürlich, ohne Rücksicht auf Verluste, mit radioaktiven Geschossen vorgehen.

Nach der überzeugend realistischen Schilderung der herannahenden Umweltkatastrophe im ersten Teil ist es fast ein wenig schade, dass Schätzing dieses fantastische Element der fremden Intelligenz hineinbringt. Denn wird so nicht der Mensch wieder ein wenig aus der Verantwortung entlassen und nur diejenigen Leser zu einem umweltschonenderen Verhalten animiert, die an die Existenz einer Tiefseelebensform glauben können, die es eines Tages übernimmt, für die Natur zurückzuschlagen? Die Frage, die sich beim Lesen am Anfang am häufigsten stellt – stimmt das? kann das wirklich so passieren? – wird dann vielleicht erleichtert verneint.

Gegen Ende nähert sich »Der Schwarm« ein wenig dem amerikanischen Hollywood-Kino an, aber die Karikatur amerikanischer Politik bleibt herrlich, und der erste Teil allein macht ihn lesenswert; danach will man natürlich wissen, wie es ausgeht.

Frank Schätzing: Der Schwarm | Deutsch
Fischer Taschenbuch 2005 | 956 Seiten | Jetzt bestellen