Florentine Anders: Die AlleeGerne erzähle ich an dieser Stelle, wie die Bücher auf meinen Nachttisch finden, wenn sich damit eine Geschichte verbinden lässt. Dass ich ein großer Fan von T.C. Boyle bin, ist hinlänglich bekannt. Einer meiner Lieblingsromane ist »Die Frauen«, der Roman über den amerikanischen Architekten Frank Lloyd Wright. Dieser hat mein Interesse an Architektur so befeuert, dass ich zusätzlich viel über Lloyd Wright las, mir reizvolle Architektur mehr auffiel und ich etliche Fahrrad-Architektouren im Raum Magdeburg mitfuhr. Als ich Anfang des Jahres in der Zeitschrift »Das Magazin« einen Ausschnitt aus Florentine Anders‘ Roman über ihren Großvater Hermann Henselmann las, war ich sofort Feuer und Flamme. Auch, weil Henselmann Frank Lloyd Wright verehrte und mit einer meiner Lieblingsschriftstellerinnen, Brigitte Reimann, befreundet war.

»Es gibt drei große Männer in Deutschland. Thomas Mann, Heinrich Mann, Henselmann.« (Hermann Henselmann (1905 – 1995), deutscher Architekt)

Florentine Anders wurde 1968 in Berlin geboren und ist Enkelin des Architekten Hermann Henselmann und seiner Frau Irene. Sie studierte an der Universität in Leipzig und der Université Assas in Paris, absolvierte dort auch die Journalistenschule Centre de Formation des Journalistes (CFJ) und arbeitete als freie Journalistin in Frankreich und Deutschland. Florentine Anders schrieb für mehrere Zeitungen und ist zurzeit Redakteurin beim Studio ZX, einem Unternehmen des Zeit Verlags. Seit 2022 ist sie Vorstandsmitglied der Hermann-Henselmann-Stiftung.

Ihr im Februar dieses Jahres erschienener erster Roman heißt »Die Allee« und birgt eine Schatzkiste packender Geschichten in sich. Nicht nur, dass die Autorin das Leben ihres Großvaters und bekannten Architekten sowie seiner großen Familie in den Mittelpunkt stellt. Der Roman beleuchtet auch anschaulich die Baugeschichte über einhundert Jahre hinweg.

Ihren Fokus richtet Florentine Anders dabei auf die Bauwerke und die Menschen. Authentisch blickt sie aus verschiedenen Perspektiven auf die Geschehnisse. Eine davon ist Henselmanns Frau Irene, genannt Isi. Sie versucht neben den acht gemeinsamen Kindern ebenfalls in der Architektenwelt ihren Platz zu finden. Isi entwirft (nur) eine Küche. Ihr Vorbild ist die berühmte Frankfurter Küche von Margarete Schütte-Lihotzky. Das Haus, in dem diese Küchen eingebaut werden, hat ihr Mann entworfen. Henselmann, übrigens ein Anhänger der Moderne, steht für viel Charakteristisches im Ostteil der Stadt Berlin: 1949 war er an der Planung der Stalinallee (heutige Karl-Marx-Allee) beteiligt. Bereits hier musste er lernen, Kompromisse einzugehen. Es galt, das »Nationale Aufbauprogramm« durchzusetzen. Hier war das klassizistische Erbe Programm.

Während der Lesung in Magdeburg gestand Florentine Anders, dass sie ihren Großvater lange als Opportunisten gesehen habe. Vertieft man sich in das Buch, stellt man fest, dass dem nicht so war. Oft kostete es ihm Mühe und Durchhaltevermögen, sich gegen den Willen der Partei zu behaupten. Hier genügte die Strategie des Sich-Durchlavierens, dort die des Sich-Raushaltens oder die Nutzung seiner vielfältigen (klug ausgewählten) Kontakte. Ein andermal half der Zuspruch seines Freundes Bertolt Brecht. Henselmann entwarf die vier charakteristischen Türme am Berliner Frankfurter Tor (östliches Ende) und am Straußberger Platz (westliches Ende). Bis heute verbindet man seinen Namen mit dem gesamten historisch anmutenden Prachtboulevard. Dass das »Haus des Lehrers« ebenso Henselmanns Handschrift trägt wie die Kongresshalle oder der Fernsehturm (um deren Urheber zäh gestritten wurde), ist vielen nicht mehr bewusst.

Eine weitere Protagonistin im Roman ist die Tochter Isa. Sie ist die Mutter der Autorin und hatte als Kind in der Familie einen schwierigen Stand. Hermann Henselmann tendierte zu Wutausbrüchen und Jähzorn und verprügelte sie oft. Einmal schlug das Gesicht des Kindes auf den Fliesenboden. Schwer zu verdauen. Auch, wenn es dazugehört, wie Florentine Anders während der Magdeburger Lesung sagte. Sie selbst habe ihren Großvater als liebevoll und fortschrittlich in Erinnerung.

Isas mysteriöser Verkehrsunfall, der nie ganz aufgeklärt wurde, geht dem Roman voran. Mit der Figur ihrer Mutter beschreibt Florentine Anders eine Art »Anti-Modell«, um sich zu distanzieren. Von da an erzählt das Buch chronologisch und beleuchtet mit dichtem, klarem Duktus immer wieder die einzelnen Lebensphasen- und modelle seiner drei Protagonist*innen. Man feiert ihre Erfolge, leidet mit den Niederlagen und wähnt sich inmitten des prall gefüllten DDR-Lebens dieser außergewöhnlichen Familie. Im Kopf ziehen währenddessen eindrucksvolle Bilder der Türme am Straußberger Platz oder der einmaligen Kugel des Fernsehturmes vorbei. Ein Buch, das lange nachwirkt und zu denen gehören wird, die noch einmal gelesen werden.

Florentine Anders: Die Allee | Deutsch
Galiani Berlin 2025 | 352 Seiten | Jetzt bestellen