Ferdinand von Schirach: NachmittageDie Journalistin sagt, sie habe drei Jahre in Heidelberg studiert, es sei eine schöne Zeit gewesen, dort habe sie ihren Mann kennengelernt. Sie stellt kluge Fragen, aber ich bin unkonzentriert, es waren zu viele Lesungen, zu viele Vorträge, Empfänge und Interviews in den letzten Tagen. Die Luft ist feucht, und die Kleidung klebt am Körper. Ich entschuldige mich, ich sei einfach nur schrecklich müde. Die Journalistin sieht mich an, dann steckt sie ihren Block in die Handtasche und schaltet das Handy aus, mit dem sie das Interview aufgenommen hat. Sie legt ihre Hand auf meinen Unterarm und lächelt.

»Ich werde Ihnen etwas zeigen, wenn Sie möchten«, sagt sie und steht auf. Ich will bezahlen, aber sie lässt es nicht zu.

In »Nachmittage« berichtet Ferdinand von Schirach, wie auch schon in »Kaffee und Zigaretten«, aus seinem Leben als Schriftsteller, von zufälligen Begegnungen überall auf der Welt und von Geschichten, die ihm zugetragen werden. Alltägliche Ereignisse, die niemals banal sind und manchmal über ein ganzes Schicksal entscheiden. In einigen Fällen komisch, in anderen tragisch. Viele der Geschichten werfen moralische Fragen auf und zeigen die Sichtweise, mit der Juristen solche Vorfälle betrachten. Von Schirach gelingt es ausgezeichnet, diese Sichtweise zu vermitteln.

Vor etwa zwei Jahren entdeckte ich seine Bücher, deren regelmäßige Präsenz auf den Bestellerlisten ich zwar zuvor schon zur Kenntnis genommen hatte, die mir aber ansonsten wenig sagten. Ich hörte die erste Sammlung von Kurzgeschichten, die auf tatsächlichen Kriminalfällen aus seiner Tätigkeit als Anwalt beruhte, und wollte unbedingt mehr davon.

Ferdinand von Schirach verdankt seinen Erfolg aber nicht nur den interessanten Fällen, von denen er berichtet, sondern auch seinem großartigen Stil. Er erzählt unspektakulär, ohne literarische Knalleffekte und verwendet kein überflüssiges Wort. Sein Stil ist klar, prägnant und verlangt völlige Konzentration und Aufmerksamkeit vom Leser, da jeder Satz voller Informationen steckt. Und obwohl der Ton nüchtern und sachlich bleibt, vermittelt er doch immer eindrucksvoll, die Gefühle und die Dramatik, die in der Geschichte stecken.

Inzwischen wurden viele seiner Geschichten für Kino und Fernsehen verfilmt. Aber ich würde in allen Fällen zuerst das Buch beziehungsweise das Hörbuch empfehlen. Als Einstieg in das Werk des Autors bieten sich »Verbrechen«, »Schuld« und »Strafe« an, aber als Ergänzung ist »Nachmittage« unverzichtbar.

Ferdinand von Schirach: Nachmittage | Deutsch
Gelesen von Hanns Zischler | Dauer: 3:34 Std.
Der Hörverlag 2022 | Jetzt bestellen

Hardcover:
Ferdinand von Schirach: Nachmittage | Deutsch
Luchterhand | 176 Seiten | Jetzt bestellen