Die Autorin Emily Gunnis hat sich in diesem Roman eines Themas bedient, das in den Kreisen der katholischen Kirche auch heute noch nach Möglichkeit totgeschwiegen wird. Es geht um die Mutter-Kind-Häuser Irlands und Englands, die von den sogenannten »Barmherzigen Schwestern« betreut wurden. In diesen Heimen konnten junge, ledige Mädchen, die ein Kind erwarteten, entbinden. Sie wurden allerdings gezwungen, diese Kinder zur Adoption freizugeben und in den heimeigenen Wäschereien unter unmenschlichen Bedingungen zu arbeiten. Auch der Roman »Auf den zerbrochenen Flügeln der Freiheit« von Rebecca Michéle setzt sich mit diesem schweren Thema auseinander.
2017 findet die Journalisten Sam bei ihrer Großmutter einen Brief von einer Ivy. Ihre Großmutter sagt, dass der Brief in den Hinterlassenschaften des Großvaters, eines Antiquitätenhändlers, lag. Die alleinerziehende Sam ist stark beeindruckt von seinem Inhalt, in welchem Ivy ihrem Liebsten anfleht, sie aus dem Heim herauszuholen. Sam wittert aber auch eine große Story, die sie in ihrem Job und auf der Karriereleiter weiterbringen könnte. Doch je tiefer sie nachforscht, umso mehr mysteriöse Todesfälle fördert sie an die Oberfläche. Ihre Nachforschungen werden immer gefährlicher, denn ihre eigene Familiengeschichte scheint immer mehr mit dem dunklen Kloster zu tun zu haben, in dem Ivy 1956 eingesperrt war.
Gunnis hat einen feinsinnigen Plot entwickelt, der vor den Gräueltaten in diesen Heimen nicht Halt macht. Das letzte dieser Heime wurde erst 1996 geschlossen. Damit wird der Roman zu einem sehr beeindruckenden und beklemmenden Werk. Man ist oft fassungslos und mag nicht glauben, dass es so etwas gegeben hat. Gleichwohl lässt das Buch an Spannung nichts vermissen. Mit den Todesfällen wird aus der Geschichte gar ein Thriller par excellence. Möchte Sam anfangs nur dem Geheimnis der Briefe auf die Spur kommen, so entwickelt sie sich zu einer ausgesprochenen Ermittlerin, die die damaligen Missstände und deren Verursacher an die Öffentlichkeit bringen möchte. Wenn man sich als Leser von den bedrückenden Geschehnissen nicht abhalten lässt, wird man in den starken Sog des Romans gezogen und von dessen Spannung getrieben.
Nicht verschwiegen werden soll: Die Magdalen-Häuser hat es in dieser grausamen Auswirkung hauptsächlich in Irland gegeben. Gunnis sagt auch im Nachwort, dass sie sich in der Beschreibung der Gräueltaten auf ihre Recherchen in irischen Häusern stützt. Trotzdem hat sie ihre Handlung im britischen Sussex verortet. Obwohl es in England auch ca. 200 solcher Heime gab, ist von solch extremer Gewalt in England nicht annähernd so viel bekannt wie aus Irland. Der Authentizität wegen hätte die Geschichte meiner Ansicht nach besser in Irland spielen sollen. Ein weiteres kleines Manko sind die relativ vielen Figuren aus verschiedenen Generationen. Insgesamt existieren sieben Generationen gleichzeitig, was ein Ding der Unmöglichkeit ist.
Wegen der Spannung, dem Sog, den die Geschichte ausübt, und dem schweren Thema, das behandelt wird, kann ich das Buch jedoch sehr empfehlen. Diese Taten sollten nie vergessen werden, zumal die meisten ungesühnt blieben.
Emily Gunnis: Das Haus der Verlassenen | Deutsch von Carola Fischer
Heyne 2019 | 400 Seiten | Jetzt bestellen