Nur wenige Orte auf der Erde sind trostloser als Südostsibirien an einem beißend kalten Morgen im März. Die stacheligen Kiefernwälder der Taiga überziehen den Boden wie ein grünes Nagelbett. Hier, bei einer Kälte von minus fünfundzwanzig Grad, hört man kein Vogelgezwitscher. Nur das Tosen des Winds und gelegentlich das klägliche, ferne Geheul eines Wolfs.
Aber ein Geräusch durchbricht die Totenstille, ein leises, anschwellendes Rumpeln. Dann funkelt auf einmal etwas in der frühmorgendlichen Sonne. Ein Hochgeschwindigkeitszug. Die spitze Nase pflügt unerbittlich durch die eisige Luft. Der dichte Wald weicht sumpfigen Ebenen und windgepeitschter Tundra.
Superspion Argylle leistet sich ein Wettrennen mit dem russischen Milliardär Federov um das legendäre Bernsteinzimmer. So ließe sich die Handlung des Buches zusammenfassen, gäbe es nicht auch noch den dazugehörigen Kinofilm. Dort wird eine Autorin in eine ihrer Geschichten verwickelt. Fiktive Szenen wechseln sich mit realer Handlung ab. Kennt man aus Filmen wie »Auf der Jagd nach dem grünen Diamanten«, »Die Insel der Abenteuer« oder zuletzt »The Lost City« mit Sandra Bullock.
»Argylle« funktioniert nach einem ähnlichen Prinzip, allerdings haben wir es hier nicht mit einem »Roman zum Film« zu tun, also die Romanfassung nach dem Drehbuch. (Solche Bücher habe ich früher gerne gelesen, weil sie vor dem Film erschienen und meist auch Passagen enthielten, die es nicht in den fertigen Film schafften oder in manchen Fällen gar nicht erst gedreht wurden.) Hier handelt es sich um den »Roman aus dem Film«. Also das Buch, das die Heldin des Films verfasst hat und dessen Handlung in kurzen Szenen in die eigentliche Filmhandlung eingestreut wird.
Leider ist diese Hintergrundgeschichte wesentlich spannender als das Buch selbst. Was besonders deshalb dramatisch ist, weil es sich um einen Thriller handelt. Verfasst wurde der Roman parallel zum Drehbuch und zwar von Regisseur Matthew Vaughan selbst, unter dem Pseudonym der Hauptfigur des Films. Vaughan schenkte uns »Layer Cake«, »Kick-Ass« und die »Kingsmen«-Filme, und dem Trailer nach zu urteilen, steht »Argylle« genau in dieser Tradition.
Der vorliegende Roman allerdings überhaupt nicht. Bierernst und langweilig kommt er daher. Anfangs dachte ich an einen Scherz auf einer Meta-Ebene. Ist die Elly Conway im Film etwa die Autorin von höchst durchschnittlichen und belanglosen Agententhrillern? Wurde der Roman deshalb so verfasst? Aber wieso sollte ihn dann jemand lesen? Oder hat man einfach einen nichtssagenden Agenten-Roman genommen und den Namen der Hauptfigur ausgetauscht, so wie in den Neunzigern jeder Schäferhund-Kalender mit einem »Kommissar Rex«-Sticker umetikettiert wurde?
Vielleicht kann man meine Enttäuschung zwischen den Zeilen herauslesen. Sie beruht hauptsächlich auf meiner Begeisterung für Vaughans Filme. Deren Kreativität und Witz sucht man hier leider vergebens. Formal und inhaltlich kann man wenig an »Argylle« aussetzen, wenn es nicht schon Tausende andere Spionage-Thriller gäbe, die genauso oder (in vielen Fällen) besser sind. Außer dem Filmbezug bleibt also leider nur eine routiniert heruntergeschriebene Agentengeschichte.
Elly Conway: Argylle | Deutsch von Michael Krug
Blanvalet 2024 | 544 Seiten | Jetzt bestellen