Der Roman »Die langen Abende« von Elizabeth Strout erzählt viele Geschichten aus dem alltäglichen Leben in Crosby, einer Kleinstadt im Osten der USA. Die 1956 geborene Schriftstellerin wuchs selbst in dieser Gegend auf und beschreibt die Gedanken und Gefühle der dort lebenden Menschen auf bemerkenswert nachvollziehbare Weise. Sie ist so nah dran, dass jede Leserin und jeder Leser in und an ihren Figuren etwas entdecken kann, das auch auf die eigene Familie zutrifft.
Im Mittelpunkt stehen die pensionierte Lehrerin Olive Kitteridge und der einstige Harvard-Professor Jack Kennison. Beide haben vor längerer Zeit ihre Ehepartner verloren. In Crosby, im US-Bundesstaat Maine, lernen sie sich kennen, freunden sich an und beginnen sich zu lieben. Das geht keineswegs reibungslos und ohne Streit über die Bühne. Was sie gemeinsam haben: Beide fühlen sich von ihren Kindern im Stich gelassen, tragen an diesem Umstand jedoch auch eine gehörige Mitschuld.
Das Leben von Olive und Jack wird in den einzelnen Kapiteln mal zusammen, mal getrennt voneinander beschrieben. Sie denken viel über ihr bisheriges Leben nach, darüber, was in ihren Ehen und in der Erziehung ihrer Kinder gut und weniger gut gelaufen ist. Haben sie vielleicht zu lange an ihren Ehepartnern festgehalten?
Gekonnt legt Strout nicht nur die Gefühls- und Gedankenwelt von Olive und Jack offen, sondern den ganzen Mikrokosmos einer Kleinstadt. Dass es sich bei diesem Roman um einen amerikanischen handelt, ist allein an der Beschreibung Crosbys festzumachen. Was das Innenleben von Strouts Romanfiguren betrifft, könnte das Beschriebene an vielen anderen Orten der Welt spielen.
»Die langen Abende« bietet zweifelsfrei höchsten Lesegenuss. Weil Anspruch, aber auch Humor darin nicht zu kurz kommen. Schon nach den ersten Sätzen fühlte ich mich an »Die Korrekturen« von Jonathan Franzen erinnert oder auch an »Diese alte Sehnsucht« von Richard Russo.
Elizabeth Strout: Die langen Abende | Deutsch von Sabine Roth
btb 2021 | 352 Seiten | Jetzt bestellen