»Nun, was das betrifft, so muss – ich bemerkte es bereits – ›Irrer‹ nicht unbedingt identisch mit ›Trottel‹ sein; und es ist meine aufrichtige Überzeugung, dass seine Behandlungsweise, im Vergleich mit derjenigen, die durch sie abgelöst wurde, die mit Abstand bessere war.« (Professor Maillard)
Die Wertevorstellungen unserer modernen Gesellschaft legen fest, wer als Genie, Versager oder gar als Verrückter gilt. Ein Zufall in unserem individuellen Lebenslauf kann für den Psychologen zu dem Zünglein an der Waage werden, die uns zum Patienten werden lässt.
Wer gern mal die Seiten wechseln möchte, dem sei die »humane Methode« aus Edgar Allan Poes schauriger Geschichte »Die Methode Dr. Thaer und Prof. Fedders« empfohlen. Die Groteske, der sich der Kunstanstifter Verlag im vergangenen Spätherbst mit einer originell illustrierten und ebenso detailverliebten Neuauflage angenommen hat, rüttelt kräftig an unseren Normen, überschreitet Grenzen und hält so dem Leser einen zutiefst menschlichen Spiegel vor. Was ist nun normal und was verrückt?
Diese Frage stellt sich ein Berliner Medizinstudent, als er 1830 nach Südfrankreich reist, um eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung zu besuchen. Unter der Leitung von Professor Maillard soll hier angeblich eine humane Methode aus England angewandt werden: Die Methode Dr. Thaer und Prof. Fedders. Monsieur Maillard verspricht dem Studenten am Tag nach seiner Ankunft eine Führung durch sein Haus und lädt ihn zum Dinner ein. Welch ein Ereignis! Feine Speisen werden aufgetischt, noble Herrschaften plaudern bei Musik und Tanz und geben befremdliche Lebenserfahrungen und Absurditäten preis. Was vermutet der junge Student dahinter? Befürchtet er, dass die Situation eskaliert? Mit wem hat er es überhaupt zu tun?
Plötzlich hört man von draußen ein schreckliches Gebrüll und das überraschende Unheil nimmt seinen Lauf.
Edgar Allan Poe schafft es auf den wenigen Seiten, die sichere Konstellation auf den Kopf zu stellen. Arno Schmidt hat die Schauergeschichte liebevoll übersetzt und sorgt mit seiner expliziten Sprache dafür, dass des Lesers Scharfsinn für kurze Zeit eingetrübt wird. Der Grat zwischen Normalität und Wahnsinn wird zum Drahtseilakt, man wähnt sich bald auf der einen, bald auf der anderen Seite.
Mit den Illustrationen gelingt Renate Wacker ein Geniestreich. Sie erinnern an den berühmt-berüchtigten Tintenkleckstest des Schweizers Hermann Rorschach. Mit ihrem symmetrischen Aufbau gleichen sie kongenial den Klecksographien, die Probanden zur Deutung vorgelegt werden, um daraus Schlüsse für die ganze Persönlichkeit zu ziehen. Angezogen von der ungewöhnlichen Bildkomposition geht der Leser auf Entdeckung der symmetrisch angeordneten Flecken, findet ausdrucksstarke Figuren und ungewöhnliche Räume.
Zugegeben, ein wenig verrückt mutet dieses Büchlein schon an mit seinem leuchtend pinkfarbenen Vorsatzpapier und den in Spiegelschrift gesetzten ungeraden Seitenzahlen. Doch was heißt schon verrückt, bedeutet das Wort doch lediglich, dass der Standort verändert wurde.
Edgar Allan Poe: Die Methode Dr. Thaer und Prof. Fedders
Deutsch von Arno Schmidt | Illustrationen: Renate Wacker
Kunstanstifter Verlag 2015 | 56 Seiten | Link