Ich bin Homer, der blinde Bruder. Ich habe mein Augenlicht nicht auf einmal verloren, es war wie im Kino, ein langsames Ausblenden. Als man mir sagte, was da vor sich ging, wollte ich es messen, ich war damals noch keine zwanzig und voller Wissensdrang. In jenem Winter stellte ich mich an den See im Central Park, wo alle Schlittschuh liefen, und prüfte jeden Tag, was ich sehen konnte und was nicht. Zuerst verschwanden die Häuser am Central Park West …
Die beiden Brüder Homer und Langley Collyer bewohnen ein prächtiges Haus in der Fifth Avenue. Die wohlhabenden Eltern gaben bis zu ihrem Tod dort rauschende Feste für die New Yorker High Society. Jetzt leben die Brüder allein. Homer erblindet langsam und sein Bruder ist durch seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg traumatisiert. Langley ist der größere Exzentriker. Sein Bruder wirkt vernünftiger, ist aber noch weit von einem Durchschnittsbürger entfernt. Er verdient sein Geld im Kino, indem er die Stummfilme musikalisch begleitet, und hat eigens eine Schülerin engagiert, die ihm das Geschehen auf der Leinwand schildert.
Die Brüder veranstalteten Tanzpartys in ihrer geräumigen Wohnung, bis sie von korrupten Polizisten beendet werden, denen sie kein Bestechungsgeld zahlen wollen. Langley liest täglich alle Zeitungen und bewahrt sie in der Wohnung auf. Er träumt von einer einzigen, weltumfassenden Tageszeitung. Er heckt auch sonst viele unausgegorene Ideen aus, die Homer alle geduldig und bereitwillig erträgt.
Sei es Gesundheit, Nudismus oder die Heilung von Homers Blindheit. Bei jedem neuen Thema wird aus Interesse rasch Besessenheit. So lange, bis er sich für etwas anderes begeistert. Damit verbunden ist ein exzessiver Sammeltrieb. Die Wohnung ist ein einziges Sammelsurium aus Zeitungen, Schreibmaschinen, Musikinstrumente, Maschinenteilen und allem, was Langley für sammelswert hält. So bringt er ein komplettes Auto, ein Ford Model T, in der riesigen Wohnung unter. Zuletzt horten sie etwa hundert Tonnen Müll in ihrer Wohnung.
Alle theoretischen Überlegungen blieben auf der Strecke, als Langley eines Tages unsere Stromrechnung zu hoch fand und den Motor des Model T als Generator einsetzen wollte. Er führte einen Gummischlauch vom Auspuff nach draußen, wozu er einen Mann ein Loch in die Speisezimmerwand bohren ließ, und stellte durch ein zweites, durch den Fußboden gebohrtes Loch, eine Verbindung zum Sicherungskasten im Keller her. Er gab sich große Mühe, damit das Ganze funktionierte, brachte aber nur einen Heidenlärm zustande.
Die Brüder befinden sich im ständigen Streit mit ihren Gläubigern, der Baubehörde und den Stadtwerken. Aber auch mit der Presse und den Nachbarn. Immer mehr werden sie zu Einsiedlern und brechen die ohnehin nur sporadischen sozialen Kontakte zur Außenwelt ab. Als man ihnen Strom, Gas und Wasser abstellt, weil sie ihre Rechnungen nicht bezahlen, greifen sie auf Kerzen und einen öffentlichen Brunnen zurück. Langleys Paranoia geht so weit, dass er aus Angst vor Eindringlingen ein kompliziertes System an Fallen errichtet.
E.L. Doctorow gehört zu den großen, mehrfach preisgekrönten Autoren der USA. Zuletzt erhielt er den PEN/Faulkner Award für »Der Marsch«. Seine Romane »Welcome to Hard Times«, »Ragtime« und »Billy Bathgate« wurden erfolgreich verfilmt. Er beschäftigt sich vorwiegend mit historischen Stoffen und so ist auch »Homer & Langley« in erster Linie ein Zeitportrait. Doch das Weltgeschehen spielt sich stets im Hintergrund ab und wird dezent und subtil in die Handlung eingeflochten.
Das Buch erzählt die so wahre wie unglaubliche Geschichte der Brüder Collyer, die wohl die ersten populären Fälle des Messie-Syndroms waren. Ihren Lebens- und Leidensweg schildert Doctorow kurzweilig und in hervorragendem Stil. Er stellt seine Protagonisten nicht bloß und führt sie auch nicht als liebenswerte Exzentriker vor, sondern erzählt in prägnanten Sätzen vom Leben und Leiden zweier Männer, die sich mit ihren jeweiligen Handicaps durch eine Welt schlagen müssen, die ihnen weder Hilfe noch Verständnis, sondern nur reine Sensationsgier entgegenbringt.
Das Buch ist leider viel zu kurz und liest sich bequem an einem Nachmittag, aber die Geschichte beschäftigt den Leser noch sehr lange danach. Das Ende der Geschichte wird in wenigen Sätzen beschrieben, die man nur verstehen kann, wenn man die Hintergründe kennt. Aber ein kurzer Blick in Wikipedia zeigt, wie gelungen Doctorow dieses Ende gestaltet hat.
Erwähnenswert ist auch noch die meisterliche Umschlaggestaltung. Das Cover von »Homer & Langley« gehört zu den schönsten, die ich kenne. Somit ein in jeder Hinsicht außerordentlich gelungenes Buch.
E. L. Doctorow: Homer & Langley | Deutsch von Gertraude Krueger
Kiepenheuer & Witsch 2010 | 219 Seiten | Jetzt bestellen
Besten Dank für diese wunderschöne Rezension. Das Buch, dessen Vorstellung in der ZEIT mir schon aufgefallen war, kommt jetzt auf alle Fälle auf die Leseliste.
Viele Grüße,
Harald