Donna Leon: Heimliche Versuchung»Jedes Schlechte erachtet für gut der Mensch, wenn ihn ein Gott verblendet. In kürzester Zeit wird’s ihm an Fluch nicht fehlen.« (Sophokles in »Antigone«)

Seit die amerikanische Schriftstellerin Donna Leon Commissario Guido Brunetti entdeckte, »während er hinter dem Opernhaus La Fenice in vollendeter Gestalt aus dem Polizeiboot stieg«, sind 27 Jahre vergangen. Jeder neue Venedig-Krimi – ein internationaler Erfolg! Auch im aktuellen Fall »Heimliche Versuchung« steckt reichlich Suchtpotenzial, erliegt doch der Leser einmal mehr der einzigartigen Verbindung von bester Unterhaltung, kriminalistischen Verwirrungen und allegorischen Anspielungen aus Literatur und Musik.

Man nehme vorab Zeilen aus der Musik, diesmal Georg Friedrich Händels Oratorium »Esther« und lege zur Abwechslung Sophokles »Antigone« auf des Commissarios Nachttisch. Nun setzte man die dem Leser bestens vertrauten Personen zum ironischen Spiel in Szene: Brunettis Frau Paola, die den schwermütigen Gedanken ihres Mannes mit ihrem guten Essen begegnet, die herzerwärmende Teenager-Kinder Chiara und Raffi, den hinterhältigen Trenente Scarpa, den aufopferungsvollen, liebenswürdigen Kollegen Vianello, die einfühlsame schlaue Computer-Spezialistin Signorina Elettra, den überheblichen Vice-Questore Patta und neuerdings die aus Neapel stammende Polizistin Claudia Griffoni, die mit ihrer Kreativität an den eingefahrenen Gleisen rüttelt.

In den immer neuen Varianten des Vertrauten liegt ebenso viel Magie wie in Venedig selbst, muss man doch als Kunst- und Kulturinteressierter unbedingt dort gewesen sein. Donna Leon hält auch in der 27. Brunetti-Auflage an ihrer ablehnenden Haltung zum Massentourismus in der Lagunenstadt und den damit verbundenen Folgen fest.

Hier bewegt sich Commissario Brunetti diesmal scheinbar müde. Liegt es am feuchten November-Nebel, dass er ohne Illusionen auf die Welt schaut? Hat er keine Lust mehr, kriminelle Machenschaften aufzudecken und nach der Wahrheit zu suchen. Brunetti liest viel und sinniert über die zwischen Gesetz und Moral zerriebene »Antigone«, während der Leser nach Verbindungen zum Esther-Zitat »Das Gesetz verurteilt, die Liebe verschont« sucht.

Geht es um Drogen, die vor den Schulen verkauft werden? Um Betrug im Gesundheitssystem? Eine Professorin von der Universität bittet Brunetti um Hilfe, weil sie annimmt, dass ihr halbwüchsiger Sohn Drogen nehme. Wenig später wird ihr unbescholtener Ehemann nachts schwer verletzt an einer Brücke gefunden. Vermutlich wird er nicht mehr aus dem Koma erwachen. Neben den Ermittlungen im Drogenmilieu führen Spuren zu einer alten Dame, die wertlose Apotheken-Coupons sammelt. Ein angeblich skrupelloser Dealer entpuppt sich als schwer krankes menschliches Wrack. Ein gieriger Apotheker nutzt die prekäre Lage einer schuldbewussten Ärztin, die lediglich ihrem behinderten Sohn ein würdiges Leben ermöglichen möchte. Während der eine durch den leicht verdienten Profit gelockt wird, handelt die andere aus Liebe zu ihrem Sohn. Der nächste nutzt seine absolute Gesetzestreue, um sich selbst ins rechte Licht zu rücken. Brunettis Ermittlungen ziehen sich, die Suche nach einfachen Erklärungen in unübersichtlicher Gemengelage führen ihn und seine Kollegen zwangsläufig in eine Sackgasse.

Der Reiz der Geschichte liegt genau in dieser Komplexität, die dank Esther und Antigone zwangsläufig eigene moralische Wertvorstellungen hinterfragen. Wie gehen wir miteinander um? Warum jagen wir so gern Gerüchten nach? Wie halten wir es im Alltag mit der Wahrheit und dem Gesetz? Donna Leon lässt uns auf der Suche nach schnellen, eindeutigen Antworten in einer komplizierten Welt innehalten und nährt damit die Hoffnung auf ein humaneres Miteinander.

edit: Die Rezension bezieht sich auf eine Sonderausgabe der Büchergilde und wurde auch im Büchergilde Magazin (1. Quartal 2019) veröffentlicht.

Donna Leon: Heimliche Versuchung | Deutsch von Werner Schmitz
Diogenes 2018 | 336 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen