Don DeLillo: Point OmegaIt takes close attention to see what is happening in front of you. It takes work, pious effort, to see what you are looking at. He was mesmerized by this, the depths that were possible in the slowing of motion, the things to see, the depths of things so easy to miss in the shallow habit of seeing.

Ein Mann sieht sich in einer Ausstellung über moderne Kunst eine Vorführung von »Psycho« in Zeitlupe und ohne Ton an. Der Film wird dabei so langsam abgespielt, dass er 24 Stunden dauert. In dem Ausstellungsraum befinden sich nur die Leinwand mit dem Film und ein Museumswärter, keine Stühle. Die Ausstellung dauert sechs Tage und der Mann kommt jeden Tag, sobald sie öffnet, und bleibt, bis das Museum schließt. Er steht dabei immer an der Wand.

Ab und zu kommen andere Ausstellungsbesucher herein, die meisten bleiben aber nicht lange, was den Mann ärgert. Er hat das Gefühl, dass nur er diese Zeitlupenfassung von »Psycho« versteht: The less there was too see, the harder he looked, the more he saw. Den anderen Zuschauern, findet er, fehlt der nötige Ernst, die nötige Intensität. Nur einmal kommen zwei Leute herein, von denen er sich mehr erhofft – ein Mann Mitte 30, der Filmwissenschaftler ist, zusammen mit einem weißhaarigen Professor – doch genau wie alle anderen gehen sie nach kurzer Zeit wieder. Der Mann ist enttäuscht.

Im zweiten Teil des Romans befinden sich der emeritierte Professor, Richard Elster, 73, und der junge Filmspezialist, Jim Finlay, in der Wüste in einem einfachen Haus im Südwesten der USA. Elster hat Finlay dorthin eingeladen, weil Finlay einen Film über ihn drehen will. Elster war nämlich zur Zeit des Irakkriegs geheimer Berater der Regierung.

An diese Position kam er durch einen Aufsatz, den er über die verschiedenen Bedeutungen des Wortes »rendition« geschrieben hat – »rendition« hat ziemlich viele Bedeutungen: Es kann eine Version sein, in der man ein Lied oder ein Theaterstück oder einen Film wiedergibt, zum Beispiel die Zeitlupenversion von »Psycho«. Es kann aber auch Auslieferung, Kapitulation oder die Verkündung einen Urteils heißen.

Elster beginnt seinen Aufsatz mit dem Satz »A government is a criminal enterprise« und schließt ihn mit einem Ausblick auf die Zukunft, in der Forscher sich Ton- und Videoaufzeichnungen über die Verbrechen der Regierung in Zusammenhang mit dem Krieg ansehen werden. Elsters Aufgabe als Berater war, den Krieg zu konzeptualisieren, ihn in Worte zu fassen, in gewisser Weise ein Kunstwerk daraus zu machen, wie »Psycho« ein Kunstwerk aus einem Mord gemacht hat:

There is no lie in war or in preparation for war that can’t be defended. We went beyond this. We tried to create new realities overnight, careful sets of words that resemble advertising slogans in memorability and repeatability.

Elster sieht seine Aktivitäten und die der Regierung kritisch, hält sie aber für notwendig und sinnvoll. Finlay stellt sich seinen Film so vor: Elster steht vor einer Wand und erzählt von seinen Erfahrungen und Gefühlen im Zusammenhang mit seiner Beratertätigkeit im Krieg. Elster lehnt das Vorhaben ab, lädt Finlay aber ein, mit ihm in sein Haus in der Wüste zu kommen, in dem er jeden Sommer ein paar Monate verbringt. Elster will in der Wüste erstens anderen Menschen aus dem Weg gehen, die für ihn nur Konflikt bedeuten, und außerdem die Messung und Einteilung von Zeit vergessen, die das Leben in Großstädten prägt. Finlay will ursprünglich nur drei Tage dort bleiben, bis er entweder ein endgültiges Nein oder Ja von Elster für sein Filmprojekt hat, aber nach dem zwölften Tag hört er auf zu zählen.

Elster und Finlay verbringen ihre Zeit in dem Haus hauptsächlich damit, darüber zu reden, wie wenig sich Realität in Worte fassen oder überhaupt wahrnehmen lässt, bis Elsters Tochter Jessie zu Besuch kommt. Ihre Mutter, eine Russin, hat sie dorthin geschickt, um sie von einem Mann fernzuhalten, mit dem Jessie sich trifft und den ihre Mutter suspekt findet. Elster vergöttert seine Tochter, ohne sie als eigenständige Person wahrzunehmen oder viel über sie und ihr Leben zu wissen – was er auch gar nicht will, denn er findet:

If you reveal everything, bare every feeling, ask for understanding, you lose something crucial to your sense of yourself. You need to know things the others don’t know. It’s what no one knows about you that allows you to know yourself.

Finlay fühlt sich leicht sexuell zu ihr hingezogen, beobachtet sie ab und zu wie ein Voyeur, wird aber nicht aktiv. Und dann verschwindet Jessie plötzlich aus dem Haus, ohne irgendetwas mitzunehmen – ihr Geldbeutel und ihr gesamtes Gepäck sind noch da. Finlay und Elster melden sie als vermisst und von da an sind alle ihre philosophischen Überlegungen komplett vergessen – Finlay vergisst sogar sein Filmprojekt – und Elster driftet in einen senilen Zustand ab. Eindrucksvoll wischen ein mögliches Verbrechen, Verlust und Trauer alle abstrakten Gedanken und Gespräche weg.

Am Ende des Romans, der einen Tag nach dem ersten Teil und vor dem mittleren Teil in der Wüste spielt, kehrt die Perspektive zurück zu dem Mann in dem Museum. Er hat sich schon im ersten Teil eine Frau herbei fantasiert, die das Psycho-Projekt genauso versteht wie er, und der Leser erfährt, dass er am letzten Tag der Ausstellung Jessie dort kennengelernt und sie ihm seine Telefonnummer gegeben hat. Was genau mit Jessie passiert ist, bleibt offen – die Suchmannschaften finden ein Messer in einem abgelegenen Canyon, aber ohne Blutspuren – es lässt sich jedoch erahnen:

He imagined turning and pinning her to the wall with the room emptied out except for the guard who is looking straight ahead, nowhere, motionless, the film still running, the woman pinned, also motionless, watching the film over his shoulder. Museum guards should wear sidearms, he thought. There is priceless art to protect and a man with a gun would clarify the act of seeing for the benefit of everyone in the room.

Viele subtile Parallelen und Verknüpfungen zwischen den beiden Erzählsträngen, die typisch für Don DeLillos Erzählstil sind, geben diesem leisen Roman über Wahrnehmung, Sprache, Gewalt und Kunst eine unheimliche Tiefe.

Don DeLillo: Point Omega | Englisch
New York Scribner 2010 | 128 Seiten | Jetzt bestellen