Dmitry Glukhovsky: TextSchmuddelige Moskauer Tristesse im tiefen Herbst 2016: »Über den dritten Verkehrsring wälzten sich Millionen von Autos, die Scheinwerfer brannten auch bei Tageslicht, in der Luft hing der Reifendreck, aus den Unterführungen quollen die Menschen, Moskau quirlte, atmete, war lebendig. Ilja wollte es anfassen, alles nacheinander anfassen, darüberstreichen. Sieben Jahre hatte er sie berühren wollen, die Stadt Moskau.«

Nach sieben Jahren wird der junge Ilja Gorjunow aus einer Haft entlassen, in die ihn kein Verbrechen, sondern ein skrupelloser Polizist gebracht hatte. Nur um ein paar Stufen auf der Karriereleiter empor zu kraxeln, hat Petja Chasin den gerade examinierten Russisch-Student geopfert und dessen Leben zerstört. Als Ilja nach Hause kommt – ein fader Wohnblock in einem Moskauer Vorort, in dem er zusammen mit seiner Mutter wohnt – muss er erfahren, dass sie kurz vor seiner Ankunft an einem Herzinfarkt gestorben ist. Dieses Ereignis bringt das Wut-Fass in Ilja zum Überlaufen und anstatt sich in sein Schicksal zu fügen, beginnt er den Mann zu suchen, der ihm seine Lebensjahre geraubt hat, um sich an ihm zu rächen.

Allerdings begann diese Suche auf »Vkontakte« (einer russischen social-media Plattform) bereits im Gefängnis, und tatsächlich gelangte es ihm dort, einen frühen Account des Polizeioffiziers zu finden. Nun hangelt er sich auch durch dessen Einträge und Selfies bei Facebook und Instagram, findet heraus, welche Diskothek er immer wieder aufsucht und legt sich dort mit einem Wurstmesser seiner Mutter in der Tasche auf die Lauer.

Ilja verletzt Petja Chasin lebensgefährlich und sieht ihm zu, wie er im Todeskampf sein Smartphone entsperrt. Er nimmt es ihm ab, wirft den Sterbenden in einen Gully und flieht. Wieder Zuhause beginnt das Telefon zu summen. Natürlich nimmt Ilja das Gespräch nicht an. Aber gleich darauf geht eine WhatsApp-Nachricht an Petja Chasin ein: »Alles in Ordnung bei dir? Mache mir Sorgen. Mama.« Bam!

Ilja beginnt sich mit dem Telefon zu beschäftigen. Liest die Chats auf WhatsApp und Signal, taucht immer tiefer in das Leben des Beamten ein. Begegnet seinem Opfer in der digitalen Welt und eignet sich dessen Sprachduktus an, damit er unbemerkt im Namen des Getöteten kommunizieren kann: mit dessen Eltern, seiner Freundin, dem Chef, den Kollegen und Drogenhändlern. Denn Ilja braucht Geld. Um seine Mutter zu begraben, und für die Flucht.

Unglaublich kompakt erzählt Dmitry Glukhovsky die nur ein paar Tage dauernde Odyssee seines Protagonisten durch ein spätherbstliches Moskau und knüpft dabei einen Schicksalsschlag an den nächsten: Tod, verlorene Liebe, Mord, Eifersucht, Flucht, Drogenhandel, Verrat, Lüge. Er spinnt ein dichtes Netz dramatischer Vorfälle von solcher Intensität, dass man den Roman förmlich verschlingt, weil man wissen möchte, ob es am Ende nicht doch einen kleinen, wärmenden Hoffnungsschimmer für Ilja Gorjunow gibt. Denn der stolpert von einem Schlamassel in den anderen, verstrickt sich immer tiefer in das Leben des Polizeiagenten. Glukhovsky verpackt so äußerst geschickt eine verheerende Kritik an den russischen Staat und dessen korruptes Beamtenwesen.

Einer in Deutschland lebenden Leserschaft, unbefleckt von der Gewalt einer diktatorischen Regierung und an rechtsstaatliche Verfahrensweisen gewöhnt, fällt es sicher nicht immer leicht, den ineinander verwobenen und verknoteten Handlungssträngen voller Intrigen zu folgen. Gerade wenn es um die Machenschaften eines staatlichen Sicherheitsapparates geht und den feinen, aber gefährlichen und manchmal tödlichen Druck, den er ausübt. Der riesige Unterschied zwischen Respekt oder eben Angst der Bürger gegenüber ihres Staates und seiner Organe wird hier mehr als deutlich, nicht nur durch die mit umgehängten Maschinenpistolen in der Stadt auf Wache stehenden Polizisten symbolisiert, sondern auch, wenn aus heiterem Himmel mal eben für zwei Stunden Straßen gesperrt und S-Bahnen gestoppt werden, nur weil der Präsident – bezeichnenderweise »Zar« genannt – mit seinem Gefolge durch Moskau prescht.

Selbst wenn man die Systemkritik wegstreicht, die übrigens nicht mit dem erhobenen Zeigefinger daherkommt, und lediglich die (kriminalistisch geprägte) Handlung betrachtet, ist dem Autor mit »Text« ein großartiger, zeitgenössischer Roman gelungen, der außerdem, soweit ich das beurteilen kann, von Franziska Zwerg hervorragend übersetzt wurde. Eine unterhaltsame, spannende, rasante und beklemmende Fahrt durch die finstere Seite der russische Seele ist das Buch allemal, ebenso ein eiskalter, gnadenloser Thriller, wie gemacht für lange dunkle Winterabende.

Dmitry Glukhovsky: Text | Deutsch von Franziska Zwerg
Ullstein 2020 | 368 Seiten | Jetzt bestellen