Dirk Bernemann: KalkIn allen verfügbaren Kalendern hat Kalk es sich eingetragen. Urlaub, Erholung, 14 Tage Holland im Hochsommer. Ohne den Druck, einen funktionierenden Menschen simulieren zu müssen. Denn Kalk fühlt sich in letzter Zeit wie ein Simulant, aber nicht wie jemand, der vorgibt, krank zu sein, sondern umgekehrt.

Lange hat er überlegt, wie groß die Entfernung zwischen hier und dort sein müsste, um das Hier zu vergessen, gegen das Dort einzutauschen, und sich am Dort vom Hier ablenken zu können. 400 Kilometer und einen Ozean in Blickweite hielt er für angemessen.

Kalk ist 55, lebt allein und besitzt eine deprimierende Sicht auf die Welt. Sein Job in einem Elektrofachgeschäft ist nicht erfüllend, aber er hat sich damit arrangiert. So wie mit fast allem in seinem Leben. Sein bester Freund und Tischtennispartner Förster ist ein Förderschullehrer, sehr sehr kurz vor dem Burnout. Kalk tritt seinen langerwarteten Urlaub an der holländischen Küste an, an einem Ort, den er als Kind mit seinen Eltern besucht hat. Kein Risiko, sondern etwas Vertrautes. Das ereignislose Abenteuer eines durchschnittlichen und unauffälligen Mittfünfzigers, bis sich durch eine plötzliche Heldentat nicht nur sein Urlaub verändert, sondern auch sein Leben eine unerwartete Wendung nimmt.

Die Menschen, denen er begegnet, sind eigentlich noch schlechter dran, als er. Eine Frau will eigentlich in diesem Urlaub ihre Ehe retten, beginnt stattdessen aber eine Affäre mit Kalk. Freund Förster, der ihn im Urlaub besucht, ist von einer neuen Liebe kurzzeitig euphorisiert und stürzt danach nur umso heftiger ab.

Kalk durchlebt diese Begegnungen eher passiv. Er trifft nur ungern Entscheidungen, aber die Ereignisse zwingen ihn zum Reagieren. Er rettet ein weiteres Leben und ist für den Tod einen anderen Menschen zumindest mitverantwortlich. Jeder Hoffnungsschimmer in seinem Leben bekommt sofort einen Dämpfer verpasst. Das ist anfangs amüsant, wird aber mit zunehmendem Verlauf immer tragischer.

Kalk ist kein Held und verhält sich auch nicht edel. Er reagiert aus dem Bauch heraus und tut gerade deshalb meist das Richtige. Seine Alltagsbetrachtungen machen ihn sympathisch, aber im Verlauf der Geschichte werden seine Gedanken zunehmend düsterer. Wodurch die Handlung immer unberechenbarer und überraschender wird. Schlecht für Kalk, gut für den Leser.

»Kalk« ist ein großes Vergnügen. Ich hatte bereits mit »Schützenfest«, dem letzten Roman von Dirk Bernemann, viel Spaß. Beide Bücher sind trotz aller Düsternis sehr witzig, voller genauer Betrachtungen der menschlichen Natur und überraschender Wendungen. Ich kann nicht garantieren, dass sich diese Begeisterung bei jedem einstellt, aber ich war ganz sicher der richtige Leser für dieses Buch. Herrlich.

Dirk Bernemann: Kalk | Deutsch
Westend Verlag 2024 | 215 Seiten | Jetzt bestellen