Was wir erlebt haben, ist nie weg. Das Verdrängte bricht sich immer wieder Bahn. Auch in den nachfolgenden Generationen. Was wir vergessen, wiederholt sich. So lange, bis wir nicht mehr weglaufen und unseren tiefsten Ängsten ins Angesicht geschaut haben.
Seitdem mich Literatur interessiert, wollte ich stets auch hinter die Geschichten schauen, die ich las. Warum handeln meine Helden zwischen zwei Buchdeckeln im entscheidenden Moment so und nicht anders? Was treibt sie an? Wer sind sie?
In ihrem 2021 beim List Verlag erschienenen Roman »Die andere Tochter« dringt Dinah Marte Golch psychologisch geschickt tief in die Abgründe vor, die uns zu denen werden lassen, die wir sind: Menschen, unverwechselbar, einzigartig, widerspruchsvoll, komplex. Dabei beleuchtet sie das Verhältnis zwischen Müttern und Töchtern, deckt Familienkonflikte auf, nähert sich einfühlsam den psychischen Problemen ihrer Protagonisten und rüttelt am Bewusstsein zum Thema Schuld. Wer sich bisher zur Materie Organtransplantation gut informiert und positioniert fühlte, wird hier auf eine ganz andere Art emotional berührt.
Die knapp vierzigjährige Antonia Petzold arbeitet als Haushaltsauflöserin. Bei einem Unfall während einer Entrümpelung verätzt sie sich die Hornhaut ihrer Augen so schwer, dass sie eine Transplantation benötigt. Aus Dankbarkeit schreibt sie einen Brief an das Transplantationsregister und bittet um Weiterleitung.
Erst am Ende der Geschichte klärt sich, wie es der Mutter der toten Spenderin gelang, den Kontakt zu Toni Petzold herzustellen. Clara Mertens lädt Toni zu sich ein. Letztere fühlt sich zu der fremden, gut situierten Frankfurter Familie magisch hingezogen und möchte mehr über die Person erfahren, der sie nun ihr Augenlicht verdankt. Je mehr Toni von der Familie Mertens erfährt, desto mehr wird sie von Clara Mertens vereinnahmt. Der älteren Schwester der verstorbenen Cornea-Spenderin gefällt dies nicht. Nach kurzer Zeit muss sich Toni nicht nur mit den immer wiederkehrenden traumatischen Erinnerungsbildern und Nebenwirkungen ihrer Immunsuppressiva auseinandersetzen, sondern sieht sich und ihre Eltern in Gefahr. Was hat Familie Mertens zu verbergen?
Die Leser*in pendelt zwischen zwei Zeitebenen. Die eine (Oktober 2019) wird von Toni selbst erzählt. Die andere, geschildert von einem neutralen Erzähler, beginnt im April 2019 und verschmilzt am Ende mit den Geschehnissen im Oktober. Hier bleibt zunächst offen, was passiert ist. Die Fragen nach dem Schuldigen und dem »Warum?« zwingen zum Weiterlesen und ziehen die Leser*in mit einer außergewöhnlichen Kraft ins Geschehen. Wie einflussreich ist Familie Mertens? Welche Schuld trägt sie? Welche Geheimnisse verbirgt Tonis Familie?
Dinah Marte Golch beschreibt die Gefühle ihrer Protagonistin anschaulich und nachvollziehbar. Einfühlsam schildert sie, in welche psychisch belastenden Situationen Organspender*innen und Empfänger*innen geraten können. Was passiert, wenn die Tote in der Empfängerin aufersteht? Obwohl ich nicht alle Reaktionen von Toni nachvollziehen konnte, habe ich sie im Verlauf des Romans in mein (literarisches) Herz geschlossen. Gespannt verfolgt man das dunkle Geheimnis um die Beutekunst der Familie Mertens während des Nationalsozialismus und die nach und nach aufgedeckten Ungereimtheiten von Tonis Familie.
Mit ihrem Roman »Die andere Tochter« ist Dinah Marte Golch ein spannendes Familiendrama gelungen, das trotz seiner Vielschichtigkeit Platz für eigene Reflexionen lässt. Es zeigt nicht nur den Einfluss der Vergangenheit auf die Gegenwart und deren Wirkung auf nachfolgende Generationen. Dinah Marte Golch spielt mit der Unübersichtlichkeit des Lebens so aufrichtig, dass der Leser*in Situationen ihres eigenen Daseins einfallen, in denen sie aus heutiger Sicht anders gehandelt hätte. Man begegnet sorgfältig ausgefeilten Charakteren, mit deren Handlungsweisen man sich gut auseinandersetzen kann. Wie geschickt die Autorin Elemente aus anderen Genres dosiert (Thriller, Mystik), die Leser*in streckenweise verwirrt und sich am Ende alles auflöst, hat mich sehr beeindruckt.
Dinah Marte Golch: Die andere Tochter | Deutsch
List 2021 | 448 Seiten | Jetzt bestellen
