Eigentlich wollte ich immer mal einen Text mit den Worten beginnen: »Früher, als ich noch jung und schön war«. Aber ich war nie schön – und möglicherweise nie jung. Deshalb schreibe ich vielleicht besser: »Früher, als ich klein war.«
Damals war ich jedenfalls kein großer Leser. Das erste Buch, das ich geschenkt bekam, war ein Bilderbuch mit dem Titel »Onkel Tobis Landpartie«. Die großflächigen Illustrationen des Buches, die angeblich sooo kindgerecht waren, konnte ich schon da nicht leiden. Viel lieber mochte ich Bilder mit vielen Details, in denen das Auge spazierengehen konnte. Ich könnte jetzt vielleicht behaupten, dass mir Onkel Tobi die Lust am Lesen vermiest hat, aber dem war nicht so. Ich war einfach nur faul. Meine große Schwester verschlang indes ein Buch nach dem anderen.
Ich dagegen fand Comics wesentlich spannender als Romane. Die vielen Buchstaben sahen nach Arbeit aus und nicht nach Vergnügen. Fast alle Bücher, die ich als Kind geschenkt bekam, wanderten ungelesen ins Regal.
Zum Glück war die Liebe meiner Schwester zu den Büchern so groß, dass sie mir jeden Abend, bevor wir schlafen gingen, vorlas. Wenn ich so daran zurückdenke, muss sie mich sehr gemocht haben, denn ich kann mich an unzählige Buchtitel erinnern, die sie mir nahebrachte. Zu ihren Lieblingsautoren zählten damals Astrid Lindgren, Jules Verne, Karl May und Carolyn Keene. Keenes Heldin, die Amateurdetektivin Susanne Langen, hatte es ihr besonders angetan. »Die verborgene Treppe« war lange Zeit ihr erklärtes Lieblingsbuch.
Oft protestierte ich, wenn meine Schwester an einer besonders spannenden Stelle abbrechen wollte. Doch es nutzte nichts. Als Nichtleser war ich ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Trotzdem war ich als heimlicher Nutznießer ihrer Leidenschaft stets froh, wenn meine Oma ihr ein neues Buch dieser Reihe schenkte.
Jahre später fand ich heraus, dass Susanne Langen eigentlich Nancy Drew hieß und Carolyn Keene das Pseudonym eines Konglomerats von Fließbandschreibern war. Das größte Rätsel war allerdings, dass die Titelzeichnerin der Reihe einmal Aiga Rasch hies, dann Aiga Naegele. Dass Frauen, wenn sie heiraten, manchmal ihren Namen ändern, kam mir damals nie in den Sinn. Dummes Kind!
Meine Schwester verlangte am Ende einer Lesestunde immer, dass ich mir den letzten Satz merkte, den sie vorgelesen hatte. Einmal, nach einem besonders heftigen Streit zwischen uns, war es eine ganze Zeit aus mit der allabendlichen Lesestunde. Damals stand gerade »Der Kurier des Zaren« auf dem Programm. Der Satz »Die beiden Journalisten gingen unter Deck, um ihren Waffenstillstand zu begießen.« hat sich mir bis heute eingeprägt.
Doch wie alle guten Dinge währte auch unsere Lesestunde nicht ewig. Das erste Buch, das ich aus eigener Kraft bewältigte, war ausgerechnet »Der Herr der Ringe« von J.R.R. Tolkien. Und das erst nach mehreren Anläufen. Bilderbücher wie »Die faule Maus« und »Das kleine alte Auto« zähle ich hier nicht mit. Zu dieser Zeit hatte meine inzwischen pubertierende Schwester Besseres zu tun, als ihren kleinen Bruder Geschichten vorzulesen. Es dauerte lange, bis ich meinen Widerwillen überwand und mir das Lesen langer Texte Spaß bereitete.
Noch heute liebe ich es, wenn wenn mir jemand vorliest. Deshalb habe ich im Gegensatz zu einigen Zeitgenossen auch nichts gegen Hörbücher. Es ist fast wie auf dem Rücksitz mitzufahren, statt selbst am Steuer zu sitzen. Irgendwie behaglich. Vermutlich, weil es an die Kindheit erinnert. Vorlesen ist eine Kunst. Ein guter Erzähler kann eine Geschichte durch den bloßen Klang seiner Stimme lebendig werden lassen. Schließlich haben unsere Vorfahren am Lagerfeuer auch nichts anderes gemacht. Und unsere großen Schwestern natürlich.