Vor einiger Zeit regte sich ein extrem talentierter Kollege auf, weil ein anderer weniger talentierter Kollege ihn in einer Buchkritik eine blutige Nase verpasst hatte. Rein verbal, versteht sich. Wir sprechen hier schließlich von hochsensiblen Künstlern. »Was schert es den Mond, wenn ihn ein Hund anbellt?«, lautete mein lapidarer Kommentar, denn der weniger Talentierte war in meinen Augen nicht wert, seinem Opfer die Bleistifte zu spitzen. Das Opfer besagter Rezension war anderer Ansicht: »Man haut Kollegen nicht in die Pfanne«, kam es zurück.
Dabei war es früher nichts Besonderes, wenn gestandene Schriftsteller wie Raymond Chandler, Dorothy Parker oder Patricia Highsmith über Neuerscheinungen ihrer Mitstreiter berichteten. Einigen verhalfen sie damit sogar zur Karriere. Diese Zeiten sind allerdings vorbei. Zu schnell steht man als übler Kotzbrocken da, wenn man als Künstler über andere Künstler lästert. Apropos Kotzbrocken: Das bringt uns zu mir. Wenn ich heute ab und zu eine Buchbesprechung schreibe, achte ich penibel darauf, nur über Bücher zu schreiben, die mir gefallen haben. Es muss ja nicht jeder wissen, welch Geistes Kind ich bin.
Vor vielen Jahren gab es jedoch eine Zeit, in der ich ungehemmt fiese Rezensionen raushaute, wie der gemeine Legastheniker Rechtschreibfehler. Ich schrieb über Bücher, Filme und Comic-Neuerscheinungen, die der Postbote in schöner Regelmäßigkeit bei mir ablieferte. Zehn Jahre lang war ich es gewohnt, einen riesigen Stapel Neuerscheinungen vorm Bett stehen zu haben (dieser Stapel vorm Bett war mir zeitweise sogar wichtiger als eine Sexualpartnerin im Bett). Ein Luxus, der eigentlich keiner war, denn mindestens 70 Prozent dieses Stapels bestand aus Schrott.
Oft fragte ich mich, wieso die Programmchefs diverser Verlage so eine perverse Abneigung gegen Bäume haben. Ich konnte mir einfach nicht erklären, warum man eine derartige Vielzahl unterirdischer Machwerke veröffentlicht. Vorher hatte ich nur Druckerzeugnisse gekauft, von denen ich einigermaßen sicher war, dass sie mir gefallen könnten. Wer will schon sein sauer verdientes Geld für schlechte Bücher verplempern? Dann schon lieber auf der Rennbahn oder im Spielcasino. Als ich Rezensent wurde und alles umsonst lesen konnte, wurde ich experimentierfreudig. Doch vorher war Lesen Spaß, nun war es Arbeit.
Ganz schnell fand ich heraus, dass Verrisse wesentlich leichter zu schreiben waren als Lobhudeleien. Das Schlechte springt einem sofort ins Auge, das Großartige ist dagegen nur schwer fassbar. Daher ist es auch so selten. Es war amüsant, gehässig zu sein und den hoffnungsvollen »Künstlern« quasi vor versammelten Publikum abzuwatschen. So konnte man sich zumindest für die vergeudete Lebenszeit rächen, die einen niemand wiedergeben kann.
Es gab vor allem zwei Arten von Schrottproduzenten: zum einen den verquasten Pseudointellektuellen, der tatsächlich an den vermeintlichen Wert seiner Elaborate glaubt; zum anderen den zynischen Vielschreiber – in vielen Fällen ein Boulevard-Journalist –, der glaubt, eine clevere Idee zu haben, mit der er den blöden Käufern das Geld aus der Tasche ziehen kann. Bis heute weiß ich nicht, was schlimmer ist.
Damals fiel mir ebenfalls auf, dass die meisten Rezensionen nicht besser waren als die Werke, die sie anprangerten. Mittlerweile weiß ich warum: Eine gute Buchkritik zu verfassen, ist verdammt schwer. Zunächst dauert es eine ganze Weile, so einen Schmöker durchzuarbeiten. Neulich las ich beispielsweise ein Buch, für dessen 320 Seiten ich nicht ganz vier Stunden benötigte. Um einen halbwegs interessanten Ansatz zu finden, gehen abermals einige Minuten ins Land. Wenn man seine krausen Gedanken danach auf etwa 1000 – 2000 Anschläge eindampft, dauert es ebenso seine Zeit.
Schrieb nicht Mark Twain einmal die Zeilen: »Entschuldige meinen langen Brief, für einen kurzen hatte ich keine Zeit«? Recht hatte er. Das Schreiben kurzer Texte dauert wesentlich länger, da man sich auf das Wesentliche konzentrieren muss. Am Ende hat man vielleicht fünf Stunden an einer Rezension gearbeitet, die dem Rezensenten nicht mal 25 Euro bringt.
Das bringt uns zur großen Schlussfolgerung: Oft lesen die Damen und Herren Rezensenten das Buch nicht einmal, sondern schreiben lieblos den Pressetext ab und fügen höchstens einen Einwortsatz wie »lesenswert« oder »langweilig« hinzu. Am Schlimmsten sind jedoch jene Banausen, die Bücher und Filme nach einem Punktesystem bewerten, bei dem die letzte Ben-Stiller-Klamotte die gleiche Punktzahl erreicht wie »Citizen Kane«. Oder jene Kritiken, die von amazon-Kunden verfasst werden. Fast immer handelt es sich um ellenlange Inhaltsangaben, gefolgt von einem kurzem, höchst unoriginellen Fazit. Da der deutsche Durchschnittsleser laut Statistik um die 50 ist, muss das wohl mit dem Klimakterium zu tun haben.
Nur Filmrezensenten sind schlimmer. Vielleicht weil selbst die größten Dösbacken meinen, Experten zu sein, nur weil sie sich jeden Abend von der Glotze berieseln lassen. Ganz oft bekommen solche Schreiber aber noch nicht mal die Inhaltsangabe gebacken. So gesehen bei »Blue Jasmine« von Woody Allen, bei dem der Rezensent einer renommierten Tageszeitung glatt die Pointe des Films verdrehte. Alzheimer, alkoholbedingte Gedächtnislücken oder schlichte Inkompetenz? fragt sich da der verdutzte Leser.
Wer eine gute Rezension lesen will, muss auch in Zeiten des Internets verdammt lange suchen. Selbst im englischen und französischen Raum sind intelligent geschriebene Rezensionen rar. Viele von uns wollen das jedoch gar nicht. Wer lässt sich schon gerne von einem wildfremden Menschen sagen, dass der eigene Geschmack unter Umständen jenseits von gut beheimatet ist? Wohl kaum jemand. Für diese Menschen sind Kritiken sowieso überflüssig. Und vielleicht sind sie das tatsächlich. Denn was kümmert es den Hund, wenn ihn der Mond anbellt?