M. Karagatsis: Das gelbe DossierDer Ausgangspunkt des Kriminalromans »Das Gelbe Dossier« ist zweifellos spannend: Dem Schriftsteller M. Karagatsis, zugleich der Verfasser des Buchs und der Erzähler der Geschichte, wird die Bitte übermittelt, eine Romanidee seines Schriftstellerkollegen Manos Tassakos zu vollenden. Tassakos kann ihn nicht selbst zu Ende schreiben, weil er vor mehr als zehn Jahren ums Leben gekommen ist. In einer Abschiedsnotiz behauptet er, er habe Suizid begangen. Die Indizien dagegen zeigen recht eindeutig, dass er sich gar nicht selbst erschossen haben kann. Trotzdem hat die Polizei nie seinen Mörder gefunden – oder zumindest nicht festgenommen.

Karagatsis erreicht die Bitte des Verstorbenen, mit dem er auch lose befreundet war, durch eine Frau, die selbst eine Schlüsselrolle in dem Mordfall spielt. Sie übergibt ihm ein gelbes Dossier, das die gesammelten Materialien und Aufzeichnungen zu Tassakos Romanidee enthält. So wird Karagatsis als Autor und Erzähler gleichzeitig auch noch zum Detektiv, der versucht, Tassakos‘ Tod aufzuklären, was ihm am Ende auch gelingt. Der zeitgenössische griechische Krimi-Autor Petros Markaris, der das Vorwort zu der 2016 im Verlag der Griechenlandzeitung erschienenen Ausgabe verfasst hat, hält diese Idee für einzigartig: »Ich kenne in der Kriminalliteratur keinen anderen Roman, in dem der Autor selbst der Detektiv ist.«

Ursprünglich erschienen ist »Das Gelbe Dossier« bereits 1956, die Ereignisse spielen im Griechenland der 1930er-Jahre, hauptsächlich in Athen. Die Protagonisten stammen allesamt aus den oberen Gesellschaftsschichten: Im Mittelpunkt stehen ein berühmter Schriftsteller und Literaturnobelpreisträger, sein arbeitsloser Neffe, sein lange verstoßener unehelicher Sohn und seine sehr viel jüngere Ehefrau sowie ihr alleinerziehender Vater, beides verarmte Aristokraten; und eben Manos Tassakos, selbst erfolgreicher Schriftsteller und Rechtsanwalt.

Die Meinung, die Karagatsis als Erzähler zu Beginn über die Figuren hat, vor allem über die Ehe des Literaturnobelpreisträgers und seiner Frau, muss er im Laufe seiner Detektivarbeit fast komplett revidieren. Tassakos, den er für sympathisch hielt, entpuppt sich als Intrigant, der ähnlich kaltblütig wie Shakespeares Iago in »Othello« mit seinen Mitmenschen und ihren Gefühlen experimentiert und sie gegeneinander ausspielt. Er beruft sich dabei auf Nietzsche und stellt sich über alle Moral. Sein Ziel ist, die Frage zu untersuchen, ob menschliche Habgier immer über Moral, Liebe und Mitmenschlichkeit siegt.

Nach einem etwas langweiligen Beginn liest sich die Geschichte dann auch relativ spannend. Aber die Figuren bleiben eher unrealistisch und agieren fast in einer von der Außenwelt und von historischen Ereignissen – immerhin sind es die 1930er-Jahre – vollkommen unberührten Sphäre. Sowohl psychologisch als auch philosophisch fand ich die Geschichte wenig überzeugend und auch sehr weit weg von der Realität. Dazu kommen lange Passagen, die vor lauter Misogynie – sei es des Autors oder der Figuren – nur schwer verdaulich sind.

M. Karagatsis hätte mehr aus der Idee und den Figuren machen können. Leider wirken sie wie allein für das moralische Experiment im Reagenzglas gezüchtete Versuchskaninchen, die kein Eigenleben entwickeln.

M. Karagatsis: Das gelbe Dossier | Deutsch von Theos Votsos
Verlag der Griechenland Zeitung 2016 | 640 Seiten | Jetzt bestellen