Daniel Kehlmann: Lichtspiel

Start ins neue Bücherjahr mit einer wichtigen Erkenntnis: An den Romanen von Daniel Kehlmann werde ich künftig wohl nicht mehr vorbeikommen. Er ist ein begnadeter Erzähler und hat dies mit seinem neuesten Buch »Lichtspiel«, erschienen im November 2023 im Rowohlt Verlag, erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Kehlmann widmet sich darin mit viel fiktionalem Schmuckwerk der Geschichte des deutschen Filmregisseurs Georg Wilhelm Pabst.

Pabst hatte mit Werken wie »Die freudlose Gasse« (1925), »Die Büchse der Pandora«, »Die weiße Hölle vom Piz Palü« (beide 1929) und der Verfilmung von Brechts »Dreigroschenoper« (1931) den Sprung in die erste Liga deutscher Filmregisseure geschafft und war nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten schon »mit einem Bein« in den USA. Dort beginnt auch Kehlmanns Roman. Der Versuch von G.W. Pabst, in Hollywood Fuß zu fassen, scheiterte jedoch. Nur einen einzigen Film brachte er dort zustande: »A Modern Hero« (1934), ein Misserfolg.

Als er aus familiären Gründen noch einmal nach Österreich zurückkehrte, wurde er vom Ausbruch des Zweiten Weltkriegs überrascht. Die Emigration in die USA war ihm nun nicht mehr möglich. Um weiter arbeiten zu können, arrangierte er sich mit dem Nazi-Regime, bemüht darum, sich nicht gänzlich von dessen Ideologie vereinnahmen zu lassen.

Der Spagat zwischen Kunst und Propaganda, zwischen Standhaftigkeit und Verführung, zwischen Moral und Macht, zwischen den Möglichkeiten des Widerstands und dem Ausgeliefertsein bildet den Spannungsbogen in »Lichtspiel« und findet seinen Höhepunkt im Aufeinandertreffen von Pabst und Joseph Goebbels. Die Szene, die Kehlmann im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda entwirft, ist gleichermaßen faszinierend wie bedrückend, der Dialog zwischen den beiden gleichermaßen komisch wie niederschmetternd. Auf jeden Fall große Erzählkunst.

Und es gibt noch weitere (nicht wenige) Kapitel, die unter die Haut gehen, zumal wenn man sich für die Geschichte des Films interessiert und um einige Hintergründe weiß. Zum Beispiel, als Pabst beauftragt wird, Leni Riefenstahl bei ihrem Film »Tiefland« zu unterstützen und er in völliger Ahnungslosigkeit (oder auch Naivität) auf ausgemergelte Sinti und Roma trifft, die von Riefenstahl aus dem Lager Maxglan bei Salzburg als Komparsen zwangsrekrutiert wurden.

Kehlmanns Darstellung von Hitlers Lieblingsregisseurin möchte man nach der TV-Dokumentation »Leni Riefenstahl – Das Ende eines Mythos« unbedingt Glauben schenken. Tiefergehende Charakterstudien sollte man von seinem Roman nicht erwarten. Ich persönlich habe sie in diesem Buch aber auch nicht vermisst.

Viele Berühmtheiten aus der Filmgeschichte haben einen kurzen Gastauftritt. Fred Zinnemann (»High Noon«), Greta Garbo, Louise Brooks, Helmut Käutner, Werner Krauß oder auch Heinz Rühmann. Doch der Star in diesem Buch ist die Geschichte, nicht, wie sie sich tatsächlich zugetragen hat, sondern wie Kehlmann sie erzählt. Das ist, passend zum Thema (und ja, fünf Euro ins Phrasenschwein), ganz großes Kino.

Daniel Kehlmann: Lichtspiel | Deutsch
Rowohlt 2023 | 480 Seiten | Jetzt bestellen