Dan Simmons: Elm HavenDale Stewart saß im Zimmer der sechsten Klasse von Old Central und war insgeheim davon überzeugt, dass der letzte Schultag die schlimmste Strafe war, die sich Erwachsene je für Kinder ausgedacht hatten.

Die Zeit verging so unglaublich langsam; es war schlimmer, als wäre er im Wartezimmer eines Zahnarztes, schlimmer, als hätte er Ärger mit seiner Mom und wartete darauf, bis sein Dad nach Hause kam, um das Strafmaß festzulegen, schlimmer als …

Es war furchtbar.

Die Sommerferien haben begonnen, eine willkommene Ruhepause vor dem kalten Rektor Roon, der alten Lehrerin Mrs. Doubbets und dem irren Hausmeister Van Syke. Trotz Ferien werden Dale Stewart und seine Fahrradpatrouille immer wieder vom stillgelegten, festungsähnlichen Schulgebäude Old Central School angelockt, das demnächst abgerissen werden soll. Die Freunde bemerken immer mehr mysteriöse Ereignisse: Ein Schüler verschwindet, ein Mitglied ihrer Gruppe wird verletzt und ein Soldat in einer Uniform aus dem ersten Weltkrieg taucht auf den Straßen der Stadt auf. Ein Lastwagen macht Jagd auf die Jungs, und sie begegnen grässlichen Wesen, die im Untergrund leben. Erst nach und nach bekommen sie heraus, wie alle diese Dinge miteinander zusammenhängen. Die Ursache liegt weit zurück in der Vergangenheit.

Das langsame Eindringen des Grauens in die Dorfidylle ist ein beliebtes Thema in amerikanischen Horrorthrillern, speziell bei Stephen King, um dessen Erwähnung ich bei dieser Rezension aus mehreren Gründen nicht herumkomme.

Dan Simmons lässt sich erfreulich viel Zeit mit der Einführung seiner Figuren und des Schauplatzes. Aber schließlich geht es hier auch nicht nur um eine Horrorgeschichte, sondern um das Kleinstadtleben in den Sechzigern und das Erwachsenwerden im Allgemeinen. Der Durchschnittsamerikaner fürchtete damals nur den bösen Kommunisten und bemühte sich ansonsten, brav und anständig zu sein. Deshalb wird alles verachtet und unterdrückt, was nicht der akzeptierten Norm entspricht. Die jugendlichen Helden des Buches haben alle private Probleme, die mit ihren Familien, deren Finanzlage oder Schulschlägern zu tun haben, sodass sie auch ohne die mysteriösen Ereignisse bereits eine große Last auf ihren schmalen Schultern zu tragen haben. Es stellt einen großen Reiz des Buches dar, ihnen bei der Bewältigung all dieser Herausforderungen zuzusehen, zumal die Erwachsenenwelt lange skeptisch bleibt und ihnen eher noch Steine in den Weg legt.

Dan Simmons ist in vielen Genres tätig. Er schreibt Science Fiction, Horror, Thriller und historische Romane. Viele seiner Bücher sind inzwischen Klassiker in ihrem jeweiligen Genre. Die Verfilmung seines Romans »Terror« als Fernsehserie war ein großer Erfolg und auch »Elm Haven« steht inzwischen zur Verfilmung an. Kein Wunder, es ist geradezu perfekt, um der Nachfolger von »Stranger things« zu werden.

»Elm Haven« ist ein Sammelband, der den Roman »Sommer der Nacht« und dessen Fortsetzung »Im Auge des Winters« zusammenfasst. Wie immer wird ein Simmons-Roman mit dem King-Zitat geschmückt, wie sehr er Simmons um sein Talent beneide. Simmons ist ein hervorragender Autor und vielseitiger als King, was Themen und Stil angeht, aber im direkten Vergleich mit dem ähnlich angelegten »Es« unterliegt »Elm Haven«, dafür hat Stephen King mit seinem Klassiker die Latte einfach zu hoch gelegt.

Doch wer »Es« liebt, wird auch »Elm Haven« mögen, denn er ist ein ausgezeichneter Roman und spannendes Lesefutter für Horrorfans. Es gibt anrührende Kleinstadtszenen neben heftigem Splatter, psychologischer Grusel und handfeste Action und alles erlebt der Leser durch eine Gruppe Halbwüchsiger. Die Recherche zu den Ursachen der Vorgänge in Elm Haven führt in die Vergangenheit und ist für meinen Geschmack etwas zu üppig konstruiert, bietet aber eine interessante Geschichtsstunde.

»Elm Haven« ist bei Weitem nicht der beste Roman von Dan Simmons, da würden mir ein halbes Dutzend anderer Bücher von ihm einfallen. Aber das spricht wiederum für die Qualität des Werkes des Autors. Empfehlen möchte ich deshalb auch seinen epischen Horrorroman »Kraft des Bösen«, der auch längst eine Neuauflage verdient hätte.

Dan Simmons: Elm Haven | Deutsch von Joachim Körber und Friedrich Mader
Heyne 2019 | 1.008 Seiten | Jetzt bestellen