Ich heiße Wilkie Collins, und da ich die Veröffentlichung dieser Aufzeichnungen auf einen Zeitpunkt hinauszuschieben gedenke, der mindestens eineinviertel Jahrhunderte nach meinem Ableben liegt, vermute ich, dass Du meinen Namen nicht kennst. Manche nennen mich zu Recht einen Spieler, und daher wette ich mit Dir, lieber Leser, dass Du kein einziges meiner Bücher und Stücke gelesen, ja noch nicht einmal von ihnen gehört hast.
Wilkie Collins ist auch heute noch bekannt und »Die Frau in Weiß« ein Klassiker. Er war ein Zeitgenosse von Charles Dickens und arbeitete eng mit ihm zusammen. Dickens ist auf dem Höhepunkt seiner Karriere, seine Bücher sind Bestseller und seine Lesereisen ausgebucht. Simmons hat Collins als Ich-Erzähler gewählt und schildert aus seiner Sicht die Ereignisse im Jahr 1865. Bei einem Zugunglück beobachtet Dickens einen unheimlichen Mann. Dickens macht sich wie ein Besessener auf die Spur des Mannes, der sich als eine Unterweltgröße namens Drood herausstellt. Er unternimmt häufig Ausflüge in die Londoner Unterwelt, macht Droods Bekanntschaft und verhält sich immer seltsamer.
Dan Simmons hat mit den »Hyperion«-Romanen Klassiker der Science Fiction verfasst, im Festa-Verlag erschien eine sehr empfehlenswerte Hardboiled-Serie von ihm und er schrieb tausendseitige historische Schmöker wie »Terror«, »Der Berg« und auch das vorliegende Buch.
»Drood« ist keine viktorianische Gruselgeschichte, sondern eine Mischung aus Krimi, Sittengemälde und Biografie. Man erfährt sehr viel über die damalige Gesellschaft und die Lebensumstände in den verschiedenen Schichten, wie auch über das Leben und Werk von Dickens und Collins. Dickens wird dabei als ein selbstgefälliger und überheblicher Workaholic dargestellt, mit gelegentlichen Anwandlungen eines Sherlock Holmes. Absolut mitreißend ist die Schilderung von Dickens‘ Arbeit und seinen öffentlichen Auftritten. Man kann dabei die Atmosphäre in den Theatern und Salons nachempfinden.
Der opiumsüchtige Collins erweist sich im Verlauf des Romans nicht immer als zuverlässiger Erzähler und der Leser muss gelegentlich selbst entscheiden, ob er einzelnen Schilderungen glaubt oder sie dem Opiumrausch zuschreibt.
Der historische Hintergrund für das Buch ist Dickens‘ letzter, unvollendeter Roman »Das Geheimnis des Edwin Drood«. Wer sich nur für die spannenden Aspekte der Geschichte begeistert, wird viele Längen in dem Buch finden. Wen aber auch die Freundschaft und Zusammenarbeit der beiden Autoren interessiert, die von Neid und Konkurrenzdenken geprägt waren, wird diesen unterhaltsamen, faktenreichen und gutgeschriebenen historischen Roman sehr schätzen.
Dan Simmons: Drood | Deutsch von Friedrich Mader
Heyne 2010 | 976 Seiten | Jetzt bestellen