Gehören Sie auch zu den vielen Menschen, denen ihr Hausarzt oder Orthopäde irgendwann einmal streng verboten hat, weiter Joggen zu gehen? Dann müssen Sie unbedingt »Born to Run« lesen. Gleichzeitig ist das Buch jedoch auch für Nichtläufer überaus lesenswert – einfach als spannend und äußerst unterhaltsam geschriebene Abenteuergeschichte, mit mexikanischen Drogenhändlern und mehreren Figuren, die nur knapp dem Tod entrinnen.
Der Verfasser, der amerikanische Journalist Christopher McDougall, ehemaliger Kriegsberichterstatter für »Associated Press« und Mitarbeiter der Zeitschrift »Men’s Health«, stieß auf die Geschichte, weil er sich eines Tages fragte, warum sein Fuß wehtut, wenn er Laufen geht. Wie so viele Jogger holt er erst einmal eine zweite Diagnose ein, die allerdings leider die erste bestätigt. Damit gibt sich McDougall jedoch zum Glück nicht zufrieden und nimmt den Leser mit auf eine Reise durch die Geschichte des Joggens – und auf eine abenteuerliche Reise in die wunderlichen und gefährlichen Wüstenlandschaften Mexikos.
Dabei integriert McDougall geschickt allerlei wissenswerte Untersuchungen und Statistiken über das Laufen in den Faden seiner Erzählung. Der Leser erfährt so zum Beispiel, dass die Verletzungsrate beim Joggen immer mehr wuchs, je besser die Laufschuhe wurden. Oder auch, dass die Zahl der Laufsportler dazu neigt, in Krisenzeiten – etwa dem Vietnamkrieg oder nach dem 11. September – sprunghaft anzusteigen. Auch eine originelle Antwort auf die alte Frage, warum Homo sapiens sich in der Frühzeit der Evolution gegenüber dem Neandertaler durchsetzen konnte, hält McDougall bereit.
Die Geschichte, die den Rahmen für seine Nachforschungen abgibt, ist umso spannender, da er sie nicht erfunden, sondern wirklich erlebt hat. Auch die Personen sind real. McDougall macht sich auf die Suche nach einer Gruppe indianischer Ureinwohner, genannt Tarahumara, die zurückgezogen in den Kupferschluchten der mexikanischen Sierra Madre leben. Sie haben den Ruf, legendäre Ausdauerläufer zu sein, für die Marathon-Distanzen noch zu kurz sind und die sich trotz des schwierigen Terrains ihrer Heimat nie beim Laufen verletzen.
Eigentlich erwartet McDougall, die Antwort auf seine Frage in der Analyse des Laufstils und der Lauftechnik der Tarahumara zu finden, etwa dem Vorfuß- oder Barfußlaufen, doch immer mehr entdeckt er, dass die mentale, um nicht zu sagen ethische Seite des Laufens eine ebenso wichtige Rolle spielen, wenn es um legendäre Läufer geht. Denn die Tarahumara stellen sich nicht nur als die besten Läufer der Welt heraus, sondern auch als die vielleicht moralischsten Menschen des Planeten: Ihre Gesellschaft ist frei von Dingen wie Mord, Diebstahl, Korruption.
In seinem Streifzug durch die Geschichte des Joggens entdeckt McDougall Parallelen zwischen den Tarahumara und anderen legendären Läufern wie Emil Zatopek, dem veganen Ultra-Marathonläufer Scott Jurek und anderen. Immer öfter stellt McDougall die Frage, ob solche Läufer gute Menschen sind, die zufällig laufen, oder ob sie gut laufen, weil sie gute Menschen sind. Oder sind sie gute Menschen, weil sie laufen?
McDougalls Begeisterung für das Laufen ist ansteckend. Er entwirft die Utopie einer glücklichen Gesellschaft und geht so weit zu behaupten: Wenn es überhaupt irgendeine Art Allheilmittel gäbe, das die Probleme lösen kann, unter denen unsere moderne Gesellschaft leidet, dann am ehesten noch Laufen. Das funktioniere allerdings nicht, wenn man nun deswegen läuft. McDougall plädiert für ein zweckfreies Laufen – ein Laufen mit Zielen und Anstrengung zwar, aber um der Freude willen. Verlange nichts von deinem Laufen und du bekommst mehr, als du dir je vorgestellt hast, schreibt er – was mich persönlich an den Pferdetrainer Klaus Ferdinand Hempfling erinnert, der von sich sagte: »Ich will nichts vom Pferd und bekomme alles.«
Auch einige andere Aspekte, die McDougall im Zusammenhang mit dem Laufen anführt, haben ihre Parallelen zum Reiten: Richtig ist es erst, wenn es leicht geht, flüssig aussieht und Freude ausstrahlt – und der Oberkörper unbeweglich scheint. Es hat mich also nicht überrascht, dass McDougall nach zwei Dritteln seines Buchs beim Anblick von Scott Jurek und der anderen Superläufer, die er zusammengebracht hat, zu der Erkenntnis gelangt, dass sie sich bewegen wie die Lipizzaner der Hofreitschule in Wien.
»Born to Run« ist in der Übersetzung von Werner Roller auch auf deutsch erschienen und im Blessing Verlag erhältlich. Als deutschsprachiges Taschenbuch erschien »Born to Run« im Herbst 2015 bei Heyne.
Christopher McDougall: Born to Run | Englisch
Alfred A. Knopf 2009 | 304 Seiten