Christoph Steckelbruck: Der gefangene SommerSie war schön, wirklich schön in Antons Augen. Und sie war tot. Jedenfalls wurde das in dem begleitenden Artikel kaum in Zweifel gezogen. Er legte seinen Kopf auf ihr gedrucktes Gesicht, roch den Duft der Druckfarben und schlief ein. Sommerlich tanzendes Licht durchdrang seinen Traum. An mehr erinnerte er sich nicht. Der Duft von frischem Druckwerk blieb ihm seitdem betörend schön.

Anton heißt der Protagonist in Christoph Steckelbrucks erstem Roman »Der gefangene Sommer«. Der Leser begleitet den dreizehnjährigen Jungen durch den Sommer 1974 und erlebt seine Entwicklung von der wohlbehüteten Kindheit in seiner kleinbürgerlich-spießigen Familie im Niederrheinischen in die Welt der Erwachsenen. Anton hat rote Haare, ist zu klein und zu dick. Nicht nur wegen seiner fleischigen Lippen wird er von seinem Bruder Fabian gehänselt. Weil seine Mutter gern Bücher von Erich Kästner las, nannte sie ihren Sohn nach einem Helden aus dessen Kinderbüchern.

Als im April 1974 die zwölfjährige Anneliese verschwindet, hat auch der Sommer keine Chance auf einen Durchbruch. Tatsächlich war dieser Sommer eine meteorologische Ausnahme mit Kaltluft, viel Regen und Missernten. Die damalige Bundesrepublik Deutschland wurde Fußballweltmeister, die Menschen dort erlebten eine turbulente und zuweilen durchdringende Zeit des Umbruchs. Auch für Anton beginnt ein an Veränderungen reicher Lebensabschnitt. Er findet neue Freunde und trifft sich mit ihnen regelmäßig auf dem Spielplatz hinter einer Grundschule, der wegen seiner Lage zwischen der gutbürgerlichen Zivilisation und den Asozialen nicht wirklich von Kindern genutzt wird.

Auf der Suche nach dem vermissten Mädchen lernt Anton den rätselhaften Archivar Lindhorst kennen, der allein in einem alten verlassenen Wohnwagen im Wald haust. Die Jugendlichen erzählen Schauergeschichten über den sogenannten Affenmann – Anton fühlt sich zu dem merkwürdigen Erwachsenen hingezogen. Mit seinen eigenmächtigen Erkundungen gerät er auf geheimnisvolle Pfade. Die Märchen und Mythen, die ihm Tante Tutta in der Kindheit erzählt hat, lassen ihre Körnchen Wahrheit keimen und fördern im Verborgenen lauernde Abscheulichkeiten zutage. Sexueller Missbrauch, Gewalt, Frauenfeindlichkeit, Furcht und Überreste nationalsozialistischer Denk- und Verhaltensmuster zerbröckeln Antons heile Kinderwelt und verwandeln ihn in einen Jugendlichen.

Mit seiner authentischen und an Metaphern reichen Sprache ermöglicht Christoph Steckelbruck dem Leser tiefgründige Erleuchtungen der dunklen Seiten jener Zeit in der damaligen Bundesrepublik und bildet das Milieu lebendig ab. Steckelbrucks Beschreibungen wirken einerseits sehr unvermittelt, andererseits poetisch versponnen. Im Verlauf von Antons Entwicklung spürt der Leser die feinfühligen Untertöne zwischen den kurzen, treffenden und den realistischen Schilderungen. So nimmt man direkt teil an Antons Prozess des Sich-Findens, des Erwachsenwerdens. Pubertät, facettenreich und spannend! Christoph Steckelbruck ist ein Entwicklungsroman gelungen, der die Zeit überzeugend spiegelt und dem deswegen noch viele Leser gewünscht seien.

Christoph Steckelbruck: Der gefangene Sommer | Deutsch
Conte Verlag 2018 | 336 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen