Christina Clemm: AktenEinsichtIn Deutschland ist jede dritte Frau von physischer und/oder sexualisierter Gewalt betroffen. Jede dieser Frauen hat ihre eigene Geschichte, doch die wenigsten Fälle bekommen die Aufmerksamkeit, die sie verdienen. Christina Clemm macht sichtbar, womit Frauen tagtäglich zu kämpfen haben. Sie ist Strafverteidigerin, Nebenklagevertreterin von Opfern sexualisierter und rassistisch motivierter Gewalt; und sie war Mitglied der Expertenkommission zur Reform des Sexualstrafrechts des Bundesministeriums der Justiz und für Verbraucherschutz.

Christina Clemm kennt die strukturellen Probleme dieser Gesellschaft genauso wie die strukturellen Probleme von Polizei und Justiz. In mehreren kurzen Geschichten verarbeitet sie, was sie in unzähligen Fällen erfahren hat. Ihre Motivation: »gesamtgesellschaftlich das Massenphänomen der geschlechtsspezifischen Gewalt gegen Frauen zu bekämpfen«.

In Deutschland gab es laut polizeilicher Kriminalstatistik im Jahr 2018 114.393 weibliche Opfer von vollendeten und versuchten Delikten sogenannter Partnerschaftsgewalt. (…) 33 Prozent der befragten Frauen in Europa haben seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche oder seelische Gewalt erfahren. Die Dunkelfeldforschung geht von einem sehr hohen Dunkelfeld aus, also von zahlreichen Taten, die nicht angezeigt werden.

An den Geschichten von Claudia S., Eva H. oder Iryna R. zeigt Christina Clemm, dass die größte Gefahr für Frauen nicht von Schattengestalten ausgeht, die ihnen nachts auf der Straße auflauern, sondern in erster Linie von ihren Partnern. Diese extreme Form von Gewalt wird von Medien oft und gern als »Beziehungsdrama« bezeichnet, doch verkennt dieser Begriff, wie strukturell und tief sexuelle Gewalt in unserer Gesellschaft verankert ist. Jeden dritten Tag wird in Deutschland eine Frau von ihrem Partner oder Ex-Partner getötet, jeden Tag versucht es einer. Diese Männer sind die größte und tödlichste Gefahr für Frauen, statistisch sind sie für Frauen gefährlicher als Krebserkrankungen oder Vekehrsunfälle.

Ganz ruhig und langsam zieht Rico das große Küchemesser aus seiner Jacke. Es kümmert ihn nicht, dass nur etwa drei Meter entfernt mehrere Personen an der Bushaltestelle stehen und den Streit beobachten. Dreimal sticht er auf Alina S. ein – von hinten. Sie hat sich nicht umgedreht. Sie ist einfach zu Boden gesunken. Geräuschlos.

Trotz der unglaublich hohen Zahl an Gewaltdelikten gegen Frauen, zeigen nur etwa 8 Prozent diese bei der Polizei an. Am Beispiel von Marcella E. oder Mia P. erläutert Clemm einige der Gründe. Denn Institutionen wie die Polizei und Justiz sind entgegen der Erwartungen ein großer Teil des Problems. So gilt vor Gericht oft die Grundannahme, dass Polizisten nicht lügen würden (obwohl Polizeigewalt in Deutschland an der Tagesordnung ist), während die weiblichen Opfer mit dem Mythos der rachsuchenden Frau zu kämpfen haben und ihnen selten Glauben geschenkt wird. Gerichtsprozesse oder polizeiliche Verhöre verstärken in vielen Fällen die Traumatisierung der Opfer von sexueller Gewalt.

Die Regel ist, dass anzeigenden Frauen nicht geglaubt wird, dass sie einen Spießrutenlauf vor sich haben und die Wahrscheinlichkeit, dass sie am Ende eines Verfahrens ein weiteres Mal Missachtung erfahren haben, leider größer ist, als dass am Ende ein Vergewaltiger angemessen bestraft wird.

Um ehrlich zu sein: Christina Clemms Buch zu lesen, ist eine Qual. Allerdings nicht, weil es schlecht geschrieben ist. Sie variiert zwischen Kurzgeschichten einzelner Frauen und sachlichen Einschüben, die bestimmte Prozesse näher erklären und das Individuelle mit dem Strukturellen verknüpfen. Doch von Gewalterfahrungen zu lesen, tut weh und ist heftig. Gerade deswegen ist es gut, dass Christina Clemm in »AktenEinsicht« diese Geschichten sichtbar macht und zeigt: Sexuelle Gewalt ist nichts, wovor wir die Augen schließen dürfen.

Wie eingangs erwähnt: Jede dritte Frau in Deutschland ist bereits Opfer von sexueller oder körperlicher Gewalt geworden. Mit anderen Worten: jede und jeder von uns kennt mit großer Wahrscheinlichkeit eine dieser Frauen. Christina Clemm bricht das Schweigen und thematisiert, was viel zu wenig Beachtung findet. Wir alle können das ändern. Ihr Buch zu lesen, ist ein erster Schritt.

Christina Clemm: AktenEinsicht | Deutsch
Kunstmann 2020 | 300 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen