Christian Kiefer: The Infinite TidesI don’t get it. If you can go to Harvard, you go to Harvard.

Wie viele kleine Jungs wünscht sich Keith Corcoran, der Protagonist von »The Infinite Tides«, nichts sehnlicher, als Astronaut zu werden. Anders als bei den meisten Kindern verliert sich bei ihm dieser Berufswunsch jedoch nicht mit dem Erwachsenwerden, sondern beruflicher Erfolg wird zu einem Ziel, über dem er alles andere in seinem Leben aus den Augen verliert.

Als sein Traum schließlich in Erfüllung geht und er auf der Raumstation der NASA einen Roboterarm austauschen darf, den er selbst konstruiert hat, stellt er beim Anblick der Erde aus dem Weltall zum ersten Mal fest, dass die Zahlen und Gleichungen, die bis dahin genug Ordnung für ihn in die Welt brachten, nicht ausreichen, um auch diese Erfahrung angemessen zu erfassen.

Just in dieser Situation, auf der Raumstation und am Ziel seiner Wünsche angelangt, erreicht Keith die Nachricht, dass seine noch jugendliche Tochter ums Leben gekommen ist. Es sagt alles über ihn, dass er trotzdem darauf verzichtet, seine Mission abzubrechen, und im Weltall bleibt – obwohl er aufgrund seiner Migränen dort eh nicht mehr viel ausrichten kann.

Das Buch wäre schon allein wegen der Art, wie Autor Christian Kiefer diese Migräneattacken beschreibt, lesenswert – denn im Gegensatz zu seinem Protagonist Keith kann er sehr gut mit Wörtern umgehen. Keith selbst ist meistens sprachlos, er trägt fast autistische Züge. Sein häufigster Gedanke im Umgang mit anderen Menschen ist, dass er nicht weiß, was er sagen soll, welche Worte, Gefühle und Handlungen angebracht wären: Das ist auch fast die einzige Antwort, die er für seinen Psychotherapeut hat.

Keith hat kaum eine Verbindung zu anderen Menschen – nicht einmal zu seiner Frau oder seiner Tochter. Und auch zu seinen eigenen Gefühlen und Gedanken hat er ein seltsam distanziertes Verhältnis, als schwebe er stets losgelöst von der Schwerkraft. Der Roman beschränkt sich ausschließlich auf seine Perspektive und Kiefer schafft es mit seiner Sprache, den Leser völlig in Keiths Sicht der Dinge hineinzuziehen – in eine alles lähmende Depression, geprägt von der blendenden Hitze des Vororts in der Nähe von Houston, Sinnlosigkeit, Stillstand und ohne Ausweg um sich selbst kreisenden Gedanken.

Keith ist so sehr von seiner Arbeit als Ingenieur, Mathematiker und Astronaut besessen, dass er so gut wie nie zu Hause ist. Seine Tochter weckt nur dann ein tiefer gehendes Interesse in ihm, als er feststellt, dass sie mathematisch begabt ist und Zahlen in denselben Farben denkt wie er. Er bemerkt überhaupt nicht, dass Quinn darunter leidet, dass er nie zu Hause ist und er sich mehr für die Wahl ihrer Schule interessiert als für ihren ersten Freund. Er versteht auch nicht, dass sie ein Leben erfüllt von zwischenmenschlichen Kontakten einer Karriere vorzieht.

Er versteht auch nicht, warum seine Frau sich scheiden lassen will und einen anderen Mann hat. Unfähig zu reden, ist die einzige Reaktion darauf, zu der er in der Lage ist, ihr gemeinsames Konto aufzulösen und sie so in finanzielle Schwierigkeiten zu bringen. Es dauert sehr lange, bis Keith zu der Erkenntnis gelangt, dass es ein Fehler gewesen sein könnte, seine Karriere wichtiger zu nehmen als seine Familie und sein restliches Leben. Es dauert auch sehr lange, bis er bemerkt, dass er deswegen wütend auf sich selbst ist, nicht auf andere, und dass sein Hauptproblem Einsamkeit ist und nicht, dass die NASA ihn zwangsbeurlaubt und ihm seine geliebte Arbeit weggenommen hat.

Was ihn rettet, ist einer seiner Nachbarn: der russische Einwanderer Peter, mit dem Keith zunächst nichts zu tun haben will. Er ist das ideale Spiegelbild zu Keith, denn auch er definiert sein Glück hauptsächlich über seinen Beruf (in Russland war er Astronom, in Amerika ist er Hilfsarbeiter), aber sein Verhältnis zu seiner Frau und seinen Kindern zeigt sehr deutlich, wo Keith versagt hat.

Christian Kiefer: The Infinite Tides | Englisch
Bloomsbury 2012 | 472 Seiten | Link