Die Wege des Herrn sind unergründlich. Auch den Niedrigsten unter uns kann er erhöhen, wenn es ihm gefällt. Jeden Tag kann sein Herold auch zu euch kommen. Vielleicht sitzt ein Königssohn mit uns in diesem Zimmer, und wir wissen es nur nicht … »Jeder von euch kann dieser Königssohn sein«, sagte Dottor Mauro … »Vielleicht sogar unser kleiner Louis Chabos.«
Der französische König Louis-Philippe I. (1773 – 1850) und die Köchin Marianne Banzori hatten ein gemeinsames Kind, dessen Geburt 1794 in Mailand als recht unsanft beschrieben wird. Er lag mit den Füßen voran und schien sich regelrecht gegen seine Geburt zu wehren. Im Beisein seiner Studenten holte ein Gynäkologie-Professor mit einem mutigen Handgriff das Baby auf die Welt. Die Studenten staunten und applaudierten ihrem Lehrer. Das neue Leben war für sie jedoch so uninteressant wie das Schicksal der Mutter. Diese benennt ihr Kind nach dem Pseudonym des Vaters: Louis Chabos. Der kleine Louis wird gleich nach seiner Geburt in ein Waisenhaus gegeben. Mehr ist über ihn geschichtlich nicht überliefert. Der erfundenen Lebensgeschichte von Louis Chabos kann man in Charles Lewinskys Roman »Sein Sohn«, 2022 beim Diogenes Verlag erschienen, nachspüren.
Gespannt und am besten ohne Pause verfolgt man die Abenteuer des Heranwachsenden, des jungen Soldaten und des späteren Familienvaters. Man wird nicht nur in die schwierige Zeit nach der Französischen Revolution gezogen, sondern quält sich und leidet mit dem Helden auf einem beschwerlichen, oft gefährlichen und barbarischen Lebensweg.
Kaum scheint Lewinskys Protagonist in ruhigere Fahrwasser zu geraten, so nahe an seinem persönlichen Glück, dass sich auch die Leserin eine Verschnaufpause gönnen kann, legt der Autor ihm erneut besonders schwere Steine in den Weg. Als sollte es Louis Chabos nur nicht zu gut gehen! Er überlebt Napoleons Russlandfeldzug und verliert auf der Flucht drei Finger. Chabos erinnert sich an einen Traum im Waisenhaus, dass er einst einem Abgesandten eines märchenhaften Königs begegnen würde, der dessen verlorenes Kind sucht. So reift in Louis der sehnliche Wunsch, seine Eltern zu finden.
Die Suche nach Mutter und Vater führt ihn während eines der bewegendsten Zeitabschnitte der europäischen Geschichte quer über den Kontinent. Nach unzähligen Abenteuern landet Louis Chabos in der Gemeinde Zizers. Er heiratet, wird Vater von zwei Kindern und entwickelt sich zu einem angesehenen Mitglied des Dorfes. Als erfolgreicher Winzer beweist er im Hungerwinter 1816/17 Mut und Hilfsbereitschaft. Hat er endlich einen Ort gefunden, an dem er sich heimisch fühlen kann?
Charles Lewinsky erzählt Louis Chabos‘ Geschichte raffiniert und souverän. In rasantem Tempo schießen die Sätze wie aus einem Maschinengewehr und bilden kurzangebundene Kapitel. Im Wechselbad der Gefühle – zwischen Anspannung und Ruhepause – genießt man mit Freude die allmähliche Entwicklung von Lewinskys Protagonisten. Mehr und mehr begreift man Louis als eigenständige Persönlichkeit, die ihre Geschicke selbst in die Hand nehmen will. Ganz im Sinne Voltaires, ganz im Sinne eines aufklärerischen Zeitalters. Auf seinem Weg begegnet Louis immer wieder starken Charakteren, die ihm helfen, sich selbst zu finden und von denen er eine Menge lernt. Aber er erfährt auch immer wieder Ablehnung und erhält auf sein ihm wichtigstes Anliegen keine Antwort. Deshalb muss er am Ende alles aufs Spiel setzen.
Charles Lewinsky: Sein Sohn | Deutsch
Diogenes 2022 | 368 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen