In den USA, aber auch in anderen Ländern wurden und werden immer noch Kinder von ihren Familien getrennt. Sei es in der Vergangenheit durch das Auseinanderreißen von versklavten Familien, durch staatliche Internate für indigene Kinder oder durch die nach wie vor stattfindende Trennung von Migrantenfamilien, zum Beispiel an der mexikanischen Grenze. In ihrem aktuellen Roman »Unsre verschwunden Herzen«, erschienen bei dtv, lenkt die amerikanische Autorin Celeste Ng unsere Aufmerksamkeit eindringlich auf diese Thematik und den damit einhergehenden Repressalien und Folgen. Die Welt, in die Celeste Ng die LeserInnen entführt, ist nicht real. Bezüge zur Wirklichkeit lassen sich dennoch herstellen.
Der Roman spielt in naher Zukunft in den Vereinigten Staaten. Ein autokratisches Regime hat die Macht übernommen und rassistische Gesetze erlassen. Eines davon heißt PACT – Preserving American Culture and Traditions. Es erklärt China zum Staatsfeind Nummer eins, weil es die Wirtschaftskrise herbeigeführt hat, die Amerika in ein heilloses Durcheinander stürzte. Als Konsequenz muss alles Asiatische angeprangert, bekämpft und unterdrückt werden. So lernt es der zwölfjährige Noah, genannt Bird, in der Schule. Er lebt mit seinem Vater auf dem Gelände der Havard University, in Cambridge, Massachusetts, in einem Studentenwohnheim unter dem Dach. Seit seine Frau Margaret Miu untergetaucht ist, möchte Eathan Gardner nicht auffallen und nicht mehr mit ihren Gedichten in Verbindung gebracht werden. Deshalb arbeitet der Linguist nun in der Bibliothek.
O nein, wir verbrennen hier keine Bücher. Schließlich sind wir in – Amerika. Hab ich recht? … Wir verbrennen unsere Bücher nicht, sagt sie. Wir stampfen sie ein. Ist viel zivilisierter, oder? Wir zerdrücken sie, recyclen sie zu Toilettenpapier. Mit diesen Büchern hat sich jemand vor langer Zeit den Hintern abgewischt.
Oh, sagt Bird. Das also ist aus den Büchern seiner Mutter geworden.
Ein Gedicht von Margaret Miu wird zur Symbolkraft des ganzen Buches. Zunächst begegnet die Zeile »All unsre verschwundenen Herzen« ihrem Sohn Bird als Graffiti im Fahrradtunnel, an einem Bauzaun oder auf verbotenen Flugblättern. Die Widerstandsbewegung gegen PACT nutzt den Vers als Losung. Dass Kinder von ihren Eltern getrennt werden, erlebt Bird am Schicksal seiner Schulkameradin Sadie. Er weiß nicht, wohin sie gebracht wurde. Doch was steht in dem verschlüsselten Brief, den er von seiner Mutter bekommt? Wird er das Rätsel lösen und am Ende seine Mutter finden können?
Gespannt verfolgt man, welche Rolle eine mutige Kollegin seines Vaters spielt und in welchem Netzwerk sie agiert. Eindrucksvoll versetzt sich Celeste Ng in die Lage des Jungen mit seiner unstillbaren Sehnsucht nach der Mutter. Ist es besser zum Laub auf der Straße zu werden? Gleichzeitig vermittelt sie den LeserInnen das Verständnis für die Sorgen des Vaters, der natürlich alles unternimmt, um seinen Sohn bei sich zu behalten. Die Angst wabert zwischen den Zeilen, das Szenario wirkt mehr als beklemmend. In berührenden Bildern beschreibt die Autorin, wie Margaret Miu unfreiwillig zur Widerstandskämpferin wird.
Am Ende bringen die FreiheitskämpferInnen mit der Magie des Erzählens das Unrechtssystem aus dem Gleichgewicht. Die Frage, ob die Kraft der Poesie dieser hohen Bürde gerecht werden kann, mag jede(r) LeserIn für sich beantworten. Für mich überstrahlt die Aussagekraft des Romans die verklärende Auflösung, obwohl ich gern das gesamte Gedicht gelesen hätte. Celeste Ng‘s Roman »Unsre verschwundenen Herzen« wurde von Brigitte Jakobeit aus dem amerikanischen Englisch ins Deutsche übertragen und erhält eine klare Leseempfehlung!
Celeste Ng: Unsre verschwundenen Herzen | Deutsch von Brigitte Jakobeit
dtv 2022 | 400 Seiten | Jetzt bestellen