Carel van Schaik, Kai Michel: Mensch sein. Von der Evolution für die Zukunft lernenWoher kommen wir und wohin gehen wir? Dass die Zivilisation vielleicht gar keine Erfolgsgeschichte ist, sondern eher den Abstieg der menschlichen Familie bedeuten könnte, diese Idee ist spätestens seit dem Bestseller »Eine kurze Geschichte der Menschheit« von Yuval Noah Harari salonfähig geworden. Als Jäger und Sammler durch eine weitgehend unberührte Natur streiften, so die These, war die Welt noch ziemlich in Ordnung und wir im Reinen mit ihr. Mit der Erfindung der Landwirtschaft und der Sesshaftwerdung haben wir uns dann aus Versehen ins Unglück gestürzt, und spätestens heute spüren fast alle, dass irgendetwas mit unserem Leben nicht in Ordnung ist, sich nicht richtig anfühlt, dass die Welt sozusagen aus den Fugen ist. Woher dieses Gefühl kommt, dieser Frage gehen die beiden Autoren Carel van Schaik und Kai Michel in ihrem neuen Buch »Mensch sein. Von der Evolution für die Zukunft lernen« nach.

»Mensch sein« ist in mancher Hinsicht eine zugänglichere Fortsetzung und Synthese ihrer beiden vorherigen Bücher »Die Wahrheit über Eva. Die Erfindung der Ungleichheit von Frauen und Männern« und »Das Tagebuch der Menschheit. Was die Bibel über unsere Evolution verrät«. Der Evolutionsbiologe van Schaik und der Historiker Michel knüpfen in »Mensch sein« dort an, wo Harari in »Eine kurze Geschichte der Menschheit« aufhört. Die Evolution im Schnelldurchlauf als Erklärung dafür, wie es zu den heutigen Zuständen gekommen ist, stellt quasi nur die Einleitung ihres Buches dar.

Nun ziehen die beiden nicht den naheliegenden Schluss, dass wir alle versuchen sollten, wieder ein möglichst artgerechtes Leben mit viel Bewegung in der Natur und einer Paläo-Diät zu führen. Aber es stimmt sie doch nachdenklich, dass Menschen, seit es sie gibt, nur einen kleinen Bruchteil ihrer Existenz in modernen Zivilisationen gelebt haben und ungleich viel länger in egalitären Jäger-und-Sammler-Gesellschaften. Dies machen sie mit einem eindrücklichen Bild deutlich: Betrachtet man die Existenz von Homo Sapiens als einen 24-Stunden-Tag, so hat er davon nicht einmal eine Stunde sesshaft verbracht.

Wir leben also, zeigen die Autoren in »Mensch sein«, heute in einem Ausnahmezustand, und das störende Gefühl, dass etwas nicht stimmt und eine Dauerkrise herrscht, kommt daher, dass wir von Natur aus zutiefst egalitäre und sozial veranlagte Wesen sind, die nicht durch materiellen Besitz, sondern gute zwischenmenschliche Beziehungen glücklich werden. Alle Tipps der Philosophie und Selbsthilfeindustrie wie etwa mehr Achtsamkeit könnten höchstens helfen, die Symptome zu lindern, nicht aber die Ursache abstellen. Stattdessen empfehlen die Autoren in einem mutigen Entwurf mehr Kultur als Lösung und nichts weniger als die Vollendung der Aufklärung und Demokratie.

Vorher beschreiben sie im Detail und überaus einleuchtend, was die Prägung der menschlichen Natur durch die Evolution für die einzelnen Aspekte des menschlichen Daseins bedeutet, etwa für die Arbeitswelt, Religion und Spiritualität, Politik und Rechtsextremismus, Kindererziehung, Sexualität, Kunst und Kreativität. Die Autoren legen den Schluss nahe, dass Menschen vielleicht gar nicht so schlecht sind, wie man denken könnte, wenn man sich die Geschichte anschaut. Stattdessen könnten wir auf einem guten Weg sein, den wir eben nur konsequent weiter gehen müssten, indem wir Irrungen und Auswüchse sozusagen von unten an der Basis korrigieren. Wie das gehen soll? Die Autoren schlagen am Ende der Lektüre zwölf Prinzipien vor, mit denen es gelingen könnte, besser Mensch zu sein – ein Buch, das Mut macht, vor allem in der heutigen Zeit.

Carel van Schaik, Kai Michel: Mensch sein. Von der Evolution für die Zukunft lernen | Deutsch
Rowohlt 2023 | 384 Seiten | Jetzt bestellen