Bruno Preisendörfer: Als unser Deutsch erfunden wurdeEs ist noch kein Jahr her, als ich in unserem Blog Bruno Preisendörfers »Reise in die Goethezeit« besprach. Das Buch war gerade erschienen und kletterte binnen kürzester Zeit die Bestsellerliste hinauf. Nun liegt ein weiteres, ähnlich hitverdächtiges Werk des Autors vor, in dem er seine Leserinnen und Leser einlädt zu einer Reise in die Lutherzeit, als unser Deutsch erfunden wurde, wie es im Titel heißt.

Es liegt der Verdacht nahe, dass der Berliner Galiani Verlag hier zügig nachlegen wollte, um an den Überraschungserfolg des ersten Buches anzuknüpfen. Tatsächlich jedoch waren beide Werke seit langem geplant und das Manuskript für die Reise in die Lutherzeit schon in Arbeit, als der Ausflug in die Weimarer Klassik noch nicht veröffentlicht war. Wenn man »Als unser Deutsch erfunden wurde« liest, ist auch schwer vorstellbar, dass sich ein derart umfangreiches, gut und akribisch recherchiertes Buch innerhalb weniger Monate aus dem Boden stampfen lässt.

Erneut gelingt es dem Autor, eine der bedeutendsten Epochen der deutschen Kulturgeschichte auf außergewöhnliche Weise zu vermitteln, indem er vor allem den Alltag der damals lebenden Menschen beleuchtet und dabei all jene Fakten, die in herkömmlichen Geschichtsbüchern zu finden sind, nur zur zeitlichen Orientierung nutzt.

Und so erfahren, oder besser gesagt erleben wir auf 472 Seiten u.a. sehr detailliert, wie schrecklich kalt, dunkel und zugig es in den Burggemäuern war, wie ebenfalls unangenehm es sein konnte, wenn das Stroh in der Bettwäsche zu faulen begann und dass, wenn der Hunger nagte, Singvögel wie Amsel, Drossel und Star in die Pfanne gehauen und fast vollständig verzehrt wurden. Die Eingeweide (Schnepfendreck) kamen fein gehackt und gut gewürzt aufs Weißbrot.

Auch in Nürnberg sollte man sich die Renaissance nicht wie einen Spielzeugmarkt vorstellen, eher als blutig brutale Epoche. Selbst beim Schembartlauf steckte unter manchem Gewand das Messer, und so manche Rechnung wurde im Menschentrubel durch einen Dolchstich von hinten beglichen.

Könnte man, wie Bruno Preisendörfer es in beiden Büchern immer wieder imaginiert, als Mensch des 21. Jahrhunderts tatsächlich in die Vergangenheit reisen, würde man dort sicher nicht sehr lange überleben bzw. umgehend zurück in die Zukunft reisen wollen. Das gilt schon für die vom Autor aufgearbeitete Goethezeit, viel mehr aber noch für die hier beschriebene Zeit Martin Luthers. Krankheiten, katastrophale hygienische Verhältnisse und ein unfassbarer Einfallsreichtum, wenn es darum ging, kriminelle, aufständige, ungläubige oder einfach nur unerwünschte Zeitgenossen ins Jenseits zu befördern und sie vorher möglichst lange und schwer leiden zu lassen.

Insofern sind die Beschreibungen der bäuerlichen Verhältnisse, der Ernährungslage, des Aberglaubens und der »Wollüsterey« am eindringlichsten. Es wäre allerdings falsch und – zugegeben – etwas sensationslüstern, nur jene Passagen als lesenswert zu markieren. Jedes Kapitel hat einen außerordentlich hohen Informationsgehalt. So erfahren wir beispielsweise auch vom Ursprung vieler heute noch geläufiger Begriffe und Redewendungen, vom Pfennigbrot, vom Taler und von jenem Ort, wo der Pfeffer wächst. Darüber hinaus räumt Preisendörfer fleißig mit Mythen und Legenden auf, indem er z. B. die vermeintlich lustigen Geschichten des Till Eulenspiegel in die unterste Schublade steckt und – dem Protagonisten seines Buches folgend – ein bemerkenswert differenziertes Bild des großen Reformators Martin Luther zeichnet; ein Bild, das eben nicht nur mit Thesen und Bibelübersetzung die Türen zur Neuzeit öffnete, sondern in vielfacher Hinsicht immer noch sehr mittelalterlich war.

Man wird das Buch nach dem ersten Lesen noch oft als ergiebiges Nachschlagewerk aus dem Regal ziehen. Das unterstreicht schon der fast 100 Seiten starke Anhang. Die Reisen des Autors in den Alltag früherer Epochen scheinen damit aber nun erst einmal abgeschlossen, und das ist schon irgendwie bedauerlich. Denn nach den zwei ungewöhnlichen Tauchgängen in die Goethe- und Lutherzeit möchte man mit Bruno Preisendörfer die gesamte Weltgeschichte erkunden.

Bruno Preisendörfer: Als unser Deutsch erfunden wurde | Deutsch
Galiani Berlin 2016 | 472 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen