Am 20. Februar 2023 jährte sich ihr Todestag zum fünfzigsten Mal. Am 21.Juli 2023 würde sie neunzig Jahre alt werden. Ein Jubiläumsjahr, in dem nicht nur in Sachsen-Anhalt an die charismatische, in Burg (bei Magdeburg) geborene Schriftstellerin Brigitte Reimann, gedacht wird. Bis heute verehre ich sie sehr, habe mich während meines Studiums ein Semester lang mit ihren Werken beschäftigt – nicht nur aus lokalpatriotischen Gründen. Die Neuausgabe ihrer 1963 erstmals publizierten und 1969 mit sprachlichen und stilistischen Überarbeitungen erschienenen Erzählung »Die Geschwister« noch einmal zu lesen, hat mich deswegen sehr gereizt.

Die im Aufbau Verlag im Februar herausgegebene Fassung folgte auf den zufälligen und sensationellen Fund von Teilen des Urmanuskripts im Frühjahr 2022 im Keller des Hauses, in dem Brigitte Reimann zwischen 1960 und 1968 in Hoyerswerda (Oberlausitz) lebte. Laut Nachwort fand man es »unter einer Treppe in einer Art Harry-Potter-Verschlag«. Gut, dass die Mitarbeiter der Sanierungsfirma umsichtig mit dem Manuskript umgingen, wusste man doch bisher wenig über die Entstehungsgeschichte der Erzählung! Zu ihrer Entstehungszeit löste sie jedenfalls heftige Meinungsverschiedenheiten in Ost und West aus.

Brigitte Reimann war mit ihrem damaligen Mann Siegfried Pitschmann nach Hoyerswerda gezogen, um im Braunkohlekombinat Schwarze Pumpe zu arbeiten. Sie erfüllten damit eine Forderung des »Bitterfelder Weges«, der die Entwicklung zu einer eigenständigen sozialistischen Nationalkultur der DDR vorantreiben und die kulturellen Bedürfnisse der Werktätigen in den Mittelpunkt stellten sollte. Beschlossen wurde dies im April 1959 während einer Autorenkonferenz des Mitteldeutschen Verlages im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld (später VEB Chemiekombinat Bitterfeld). Die Arbeiterklasse sollte am Aufbau des Sozialismus mehr beteiligt werden, Kunst und Leben ebenso zusammengehören wie Künstler und Volk. Die Arbeit von Künstler*innen und Schriftsteller*innen in den Betrieben sah man als guten Grund, die Arbeiter*innen bei ihrer eigenen künstlerischen Tätigkeit unterstützen (Bewegung schreibender Arbeiter). Die von Walter Ulbricht initiierten Direktiven standen unter dem Motto »Greif zur Feder Kumpel, die sozialistische deutsche Nationalkultur braucht dich!«

Auch die Protagonistin aus der Erzählung »Die Geschwister«, Elisabeth, arbeitet in einem Großbetrieb. Sie hat Kunst studiert und nun dort ihr Atelier bezogen. Der Einblick in den sozialistischen Arbeitsalltag wirkt zum einen historisch, zum anderen lassen sich durchaus Bezüge zur Gegenwart herstellen. Ein Arbeiter, der wegen seiner Verdienste als alter Kommunist sehr geschätzt wird, fühlt sich von der jungen Malerin bedroht. Er verbreitet Gerüchte über Elisabeth, dass sie »eine intellektuelle Nutte« sei und nicht etwa zum Modellsitzen Besuch in ihrer Wohnung empfangen würde.

Jetzt kannst du einpacken, dachte ich. Er hat das primitivste Mittel gewählt, um dich zu erledigen, das primitivste und wirksamste Mittel, du kannst zusehen, dass du verschwindest.

Als hätte Elisabeth nicht schon genug Probleme im Betrieb, kommt es auch noch zu einer Entfremdung zu ihren Brüdern – ein Bruch, verursacht durch die deutsche Teilung. Ihr fünf Jahre älterer Bruder Konrad geht in den Westen und findet in einer Werft bei Hamburg einen Job. Bald fährt er ein Auto, auf das er in der DDR viele Jahre gewartet hätte. Für Elisabeth ist dies ein herber Verlust. Sie ärgert sich und nimmt es ihm übel, dass er sich nicht für die DDR einsetzen wollte. Dass aber auch ihr Lieblingsbruder Uli weg möchte, zieht ihr sprichwörtlich den Boden unter den Füßen weg. Wie Zwillinge waren sie miteinander verbunden. Er spricht erst mit ihr, als er schon alles geplant hat. Was wird von ihren Gemeinsamkeiten bleiben, wenn nun jeder seinen eigenen Weg verfolgt?

Elisabeth bezieht zwar klar und linientreu Stellung, ist aber auch ein wenig naiv. Sie möchte beim Aufbau des jungen sozialistischen Staates helfen. Dass Brigitte Reimann auch den beiden Brüdern eine Stimme gibt und sie nicht als verblendete Klassenfeinde darstellt, ist etwas Besonderes, weil die Situation in der DDR damals und bis 1989 nicht öffentlich angesprochen wurde.

Konrad und Uli haben plausible Argumente, die mehr als nur die simple Sehnsucht nach materiellen Dingen zum Ausdruck bringen. Sie widerspiegeln die Sorgen und Träume der Menschen in der damaligen Zeit und geben Aufschluss über die Vorstellungen und Klischees vom anderen Teil Deutschlands. Die gerade vollzogene deutsche Teilung wird so schmerzvoll begreifbar. Man kann sich in die Menschen hineinversetzen. Dies ist literarisch gesehen nur noch in Christa Wolfs »Geteiltem Himmel« möglich.

Gut, dass die in der Erstausgabe gestrichenen Passagen nun wieder in den Text eingefügt wurden. Die Erzählung liest sich frisch und punktet mit authentischer und lebendiger Sprache.

Auch nach über vierzig Jahren, wohlwissend mit dem Inhalt vertraut, folgte ich gespannt den Ereignissen und menschlichen Konflikten der deutschen Teilung, die zum einen ein eindrucksvolles Zeitzeugnis darstellen und zum anderen eine zeitlose Geschichte über Zugehörigkeit, Eigenständigkeit und Loyalität erzählen. Man ahnt nur, wie ideologisch aufgeladen die Stimmung der sechziger Jahre gewesen sein muss (Stasi-Szene, Kunst-Diskussion) und wie sie einem Unwetter gleich Familien entzweite. Man spürt, wie existenziell die Flucht ihres Bruders Lutz (1960) für Brigitte Reimann war und wie unaushaltbar das Gegeneinander von Bruder und Schwester.

Das wichtigste Buch, das zu Brigitte Reimanns Lebzeiten erschien, hat mich auch jetzt wieder tagelang gefesselt. Es hat durch den Abgleich der handschriftlichen Original-Niederschrift, der ersten Druckfassung und ihren Tagebucheintragungen nicht nur gewonnen, sondern ist auch ein großartiges Zeitzeugnis unserer jüngsten Geschichte.

Foto: Aufbau Verlage

Brigitte Reimann: Die Geschwister | Deutsch
Aufbau 2023 | 224 Seiten | Jetzt bestellen