»Ich erinnere mich nicht nur an meine Hochzeit. Ich erinnere mich an den Streit über die Form unserer Torte. Ich erinnere mich an die kleinsten Details unseres Hauses. An unseren Sohn. An jeden Augenblick seiner Geburt. An sein Lachen, das Muttermal auf seiner linken Wange. An seinen ersten Schultag, und wie er nicht wollte, dass ich wegging. Aber wenn ich versuche, mir Sam vorzustellen, ist sein Bild schwarz-weiß. Seine Augen haben keine Farbe. Ich sage mir, dass sie blau waren, aber ich sehe nur in Schwarz. Alle Erinnerungen an dieses Leben sind grau getönt, wie Standbilder aus einem Film noir. Sie kommen mir echt vor, aber es sind spukhafte Phantomerinnerungen.« Sie verliert die Fassung. »Alle glauben, FMS besteht nur aus falschen Erinnerungen an die großen Momente des Lebens, aber was viel mehr schmerzt, sind die kleinen Momente.«
Barry Sutton ist Polizist in New York und versucht, eine Selbstmörderin aufzuhalten, die am False Memory Syndrome leidet. Sie kann ihren eigenen Erinnerungen nicht mehr vertrauen und springt deshalb in den Tod. Barry macht sich auf die Suche nach den Hintergründen. Die Selbstmorde im Zusammenhang mit FMS werden immer zahlreicher und man geht von einer Massenhysterie aus. Barry leidet unter einer privaten Tragödie: Vor elf Jahren kam seine Tochter bei einem Unfall ums Leben und seine Frau ließ sich bald darauf von ihm scheiden.
In einem zweiten Handlungsstrang bekommt die engagierte Wissenschaftlerin Helena Smith von einem geheimnisvollen Wohltäter die finanziellen Mittel, um ein ehrgeiziges Forschungsprojekt umzusetzen, das sich mit Erinnerungen befasst. In erster Linie möchte Helena damit ihrer dementen Mutter helfen. Doch ihr Wohltäter verfolgt andere Pläne.
Eine Verschwörung, private Tragödien, ein Polizist und eine Wissenschaftlerin, die nach erfolgreichem Abenteuer einem Happy End entgegensehen. Schon nach kurzer Zeit glaubt man als Leser genau zu wissen, in welch festen Bahnen die Handlung verlaufen wird, denn »Gestohlene Erinnerung« beginnt wie ein spannender Wissenschaftsthriller á la Michael Crichton. Aber die Vorhersehbarkeit wird rasch über Bord geworfen.
Wie auch bei seinem vorherigen Buch »Dark Matter« kommt hier die Handlung durch eine neuartige Technologie in Gang. In diesem Fall die Rückversetzung eines Menschen in eine frühere Erinnerung, sodass er an diesem Punkt seines Lebens neu ansetzen kann. Der Autor interessiert sich weniger für die technischen Aspekte seiner »Maschine«, als vielmehr für die Auswirkungen auf die Menschen selbst. Die Geschichte beschränkt sich aber nicht auf die Möglichkeit einer zweiten Chance im Leben, um diesmal alles besser zu machen, denn natürlich hat die Sache einen Haken.
Es fällt schwer, über dieses Buch zu reden, ohne eine der zahlreichen Wendungen zu verraten, die die Handlung nimmt. Wie bei Zeitreisen haben auch veränderte Erinnerungen Folgen. Nicht nur für die Person selbst, sondern für alle, die diese Erinnerung ebenfalls teilten. Im Falle von weltweit wahrgenommenen Ereignissen betrifft es jeden Menschen.
Der Thrillerautor Blake Crouch baut immer wieder Science-Fiction- und Mysteryelemente in seine Bücher ein, die oft nicht auf den ersten Blick erkennbar sind. »Dark Matter« und die »Wayward-Pines«-Reihe (auf der die gleichnamige Fernsehserie beruht) waren herausragende Thriller, die neben perfekter Unterhaltung auch Anlass zum Nachdenken boten. »Gestohlene Erinnerung« übertrifft nun noch die Vorgänger.
Wenn man seinen eigenen Erinnerungen nicht mehr trauen kann und diese ständig verändert werden können, dann wird Realität zur Illusion. Das wirkt wie die Gedankenspiele von Philip K. Dick in seinen Geschichten. Aber der Roman erinnert auch an Filme wie »Inception« und »Und täglich grüßt das Murmeltier«, denn Crouch holt wirklich alles aus seinem Thema heraus und zeigt die verschiedensten Auswirkungen solcher Manipulationen, global und für den Einzelnen.
Spannende Unterhaltung mit Grips. Ein echter Pageturner!
Blake Crouch: Gestohlene Erinnerung | Deutsch von Rainer Schmidt
Goldmann 2020 | 432 Seiten | Jetzt bestellen