Mit einer kleinen Sommerverschnaufpause veröffentlichen wir Autor*innen von wortmax.de jede Woche eine neue Buchbesprechung. Wir lesen überdurchschnittlich viel, unsere Bibliothek wächst rasch (aktuell über 860 Blogartikel).
Von Zeit zu Zeit bemühe ich meinen E-Book-Reader, doch die Liebe zum gedruckten Exemplar überwiegt. Allein der Duft, die Haptik und im besten Fall schöne Illustrationen lassen mein Lese-Herz höherschlagen. Kommen noch ein mit dem Vorsatzpapier farblich abgestimmtes Lesebändchen, Leineneinband und Fadenheftung dazu, wähne ich mich im siebten Bücherhimmel. Seit ich lese, schlägt mein Herz für so ausgestatte Bücher. Wie entstehen solche Kleinode? Wieviel Zeit vergeht dafür von der Idee bis zum Verkaufstisch in meiner Lieblingsbuchhandlung? Wer sind die Menschen hinter diesen bibliophilen Kostbarkeiten?
Auf den Spuren eines solchen Prozesses nahm ich während der diesjährigen Leipziger Buchmesse im Rahmen des Festivals »Leipzig liest« an einem von der Büchergilde Gutenberg organisierten Werkstattgespräch teil, das einen Herausgeber, Illustrator und eine Buchgestalterin in eine spannende Unterhaltung verwickelte, sowie den Zuhörern den einen oder anderen Aha-Effekt bescherte.
Am 10. Februar 2023 wäre Bertolt Brecht 125 Jahre alt geworden. Das war für die Büchergilde Gutenberg Anlass genug, sein Schaffen mit einem Band ausgewählter Gedichte zu würdigen. »O die unerhörten Möglichkeiten« lautet der Titel des Buches. Wen, wenn nicht dazu den langjährigen Verleger von Suhrkamp und Insel, Günter Berg, mit ins Boot holen? Schließlich liegen dort die Publikationsrechte für alle Brecht-Werke. Neben Berg als Herausgeber sagten Hans Ticha als Illustrator und die junge Buchgestalterin Clara Scheffler zu.
Günter Berg legte während des Werkstattgesprächs seine Herangehensweise dar, aus 2400 Gedichten (5 Bände) der Berliner/Frankfurter Gesamt-Ausgabe mit insgesamt 30 Bänden diejenigen Verse auszusuchen, die es in den Band schaffen sollten. Welch unerhörte Möglichkeiten! Die Auswahl der Gedichte folgte einer thematischen und biografischen Ordnung und geht dabei gleichzeitig auf den Dichter als Exilanten ein. Die strahlend-gelbe Leinenausgabe vereint Liebes-, politische, philosophische und erotische Lyrik. Hintergrundinformationen über Brechts Zusammenarbeit mit Kurt Weill und anderen Komponisten sowie seine Flucht über Schweden und Finnland in die USA weckten die Neugier, den Dichter wiederzuentdecken und das Verständnis für seine spezielle Situation nach Hitlers Machtergreifung.
Plötzlich hatten seine Augsburger Gedichte nichts mehr mit der Wirklichkeit zu tun! Brecht hat nicht nur mit verschiedenen Komponisten zusammengearbeitet, sondern sich seine Gedichte auch selbst vorgesungen. Dass er nach seiner Rückkehr nach Europa einen österreichischen Pass besaß und in alle Besatzungszonen reisen konnte, wusste ich nicht. Brecht war sicher, dass sich in der jungen DDR seine Ansichten decken würden. Weil er jedoch viel zu frei dachte und nicht mit allen Maßnahmen der DDR-Führung einverstanden war, gestaltete sich seine Arbeit kompliziert. Ein Freund der SED war er nicht. Berg ging auch auf Brechts längste Geliebte Ruth Berlau ein, die sich bis zu seinem Tod um sein Archiv kümmerte.
Der Illustrator und Gebrauchsgrafiker Hans Ticha wurde auf der Frankfurter Buchmesse im vergangenen Herbst mit einem »Sonderpreis Gesamtwerk« des Deutschen Jugendliteraturpreises für sein Lebenswerk ausgezeichnet. Dem Brecht-Band habe er zugesagt, »weil es Brecht war«, so Ticha während des Werkstattgespräches. Brecht war für ihn immer ein Lichtblick. In den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts hat er bereits Plakate zu Werken von Brecht gestaltet, darunter auch Illustrationen für kleine Erzählungen.
Während des Abends thematisierte er den Offset-Druck in der DDR einschließlich seiner Grenzen, klärte über Fixative auf und meinte, dass wohl »seine kleinen Zettelchen an den Grafiken mit Hinweisen für den Druck stets zuerst weggeworfen wurden«. Ticha bekundete sein großes Interesse am Gebrauchsbuch. Für ihn hat auch Brecht einen Gebrauchswert.
Der Büchergilde Gutenberg kommt das sehr gelegen, möchte sie doch ihre Bücher unter den Menschen statt in Vitrinen sehen. Einig waren sich die Gesprächspartner über Bücher, die mehr als 300 Jahre halten und neue Bücher, die beim Auseinanderdrücken knacken und sich in einzelne Blätter auflösen. Gespannt konnte man verfolgen, warum und wie Hans Ticha zum Illustrator und Gebrauchsgrafiker wurde. Noch spannender seine Sicht auf die Jahre nach der Wende, als die Leute alles andere als Grafiken brauchten und warum Bücher mit seinen Illustrationen bereits Jahre vorher auch im Westen Deutschlands zu haben waren.
Tichas Illustrationen erinnern an eine Mischung aus Pop-Art und Bauhaus-Kunst, kommen humorvoll daher, erzählen Geschichten und sind gleichmäßig im vorliegenden Brecht-Band verteilt. Dafür und dass am Ende alles zueinander passt, sorgte die Buchgestalterin Clara Scheffler. Sie wollte, dass man die Struktur des Buches wahrnehmen kann und den plakativen Illustrationen mit der Schriftart »Tempo« begegnen. Leidenschaftlich erläuterte sie, wie die anderen Schriftarten (»Minion Pro« und »Akzidenz Grotesk«) in das Buch fanden.
Die farbigen Zwischenseiten stellen die Bezüge zur jeweiligen Zeit her – man findet sich schneller zurecht. Tichas Zeichnungen kannte die Buchgestalterin bereits aus dem Band mit Lyrik von Mascha Kaléko, den sie auch gestaltet hat. Bertolt Brecht bezeichnete sie als »Schwergewicht«, weil sie sich immer wieder mit ihm auseinandersetzt. Alles fing mit dem Besuch desselben Gymnasiums wie der Dichter an. Schön, dass sie auch auf die Erfahrungen des Verlages zurückgreifen konnte (z.B. bei der Auswahl des Leinens oder des Papiers). Als Insider kennt man nun den Unterschied zwischen gestrichenem und ungestrichenem Papier und warum beim Brecht-Band letzteres verwendet wurde.
Corinna Haffmann hielt als Moderatorin während der lebhaften Runde und den anschließenden Fragen die Fäden zusammen. Am Ende fügen sich alle besprochenen »unerhörten Möglichkeiten« zu einem wunderbaren Ganzen zusammen, das nach anderthalb Jahren Entstehungszeit hoffentlich für viele Leser zum Gebrauchsgegenstand wird.
Bertolt Brecht: O die unerhörten Möglichkeiten | Deutsch
Zeichnungen: Hans Ticha, Buchgestaltung: Clara Scheffler
Mit einem Nachwort von Günter Berg
Büchergilde Gutenberg 2022 | 320 Seiten | Weitere Infos