Benedict Wells: Die Wahrheit über das LügenBenedict Wells betrachtet seinen Kurzgeschichtenband als ein literarisches Mixtape (das waren früher diese selbst zusammengestellten Musikkassetten – die Prä-Internet-Generation wird sich gerne mit verklärtem Blick daran erinnern) und nach der Lektüre seines Buches kann ich nur sagen: Mission erfolgreich erfüllt! Der Autor schüttet hier ein Füllhorn seines Könnens über die geneigte Leserschaft aus. Wir taumeln staunend von einem literarischen Kleinod zum nächsten.

In der längsten Geschichte des Buches frönt Benedict Wells seiner Leidenschaft für »Star Wars« (wobei diese sich laut eigener Aussage auf die Filme bezieht, mit denen der Kult seinen Anfang nahm und weniger auf die etwas bemühten Prequels der Neuzeit) und kreiert mal eben einen so unterhaltsamen wie zwielichtigen »Star Wars«-Bewunderer, der unter phantastischen Umständen, die hier nicht verraten werden sollen, das Star-Wars-Imperium und dessen Historie komplett neu definiert. An der einen oder anderen Stelle kam ich mir fast vor wie in einer Geschichte von Stephen King (und das ist absolut als Kompliment gemeint).

Selbst dem leicht angestaubten Miniaturgenre der Weihnachtsgeschichte vermag er eine ganz neue Seite abzugewinnen, die dazu führt, dass die in dieser Sammlung befindliche Erzählung selbst dem seligen Charles Dickens Respekt abgenötigt hätte. Lieber Herr Wells, bitte nehmen Sie meinen imaginären Applaus entgegen! Ich vermeide ganz bewusst, die Titel der jeweiligen Geschichten zu nennen, damit die Leserinnen und Leser ebenso ahnungslos in den jeweiligen Plot eintauchen kann, wie ich selbst. Die Erzählungen sind allesamt sehr unterschiedlich, der Grundton wechselt von amüsant zu ergreifend, von mitfühlend zu verstörend. Ich bin mir sicher, dass viele dieser Texte die Leserinnen und Leser noch lange begleiten werden.

In einer der Geschichten wird es dann sehr persönlich, wenn Benedikt Wells über Erfahrungen aus seiner Kindheit berichtet, die dann auch zu einer Reflexion im Schlusswort des Buches führen. Wer »Vom Ende der Einsamkeit« gelesen hat, wird sich über ein Kapitel freuen, das es (aus Gründen, die Benedict Wells im Vorwort des Textes erläutert) nicht in den Roman geschafft hat. Und am Ende der finalen Kurzgeschichte hat er mir sogar eine Träne abgerungen. Das schaffen nicht viele.

Im Zuge der Vorbereitung auf dieses Buch hat Benedict Wells eine ganze Reihe bekannter Kurzgeschichtenautoren und -autorinnen gelesen, um die Essenz dieser Form zu analysieren. Was ist das Besondere, das z. B. eine Kurzgeschichte von Carson McCullers zu eben einer solchen macht? Nach der Lektüre des Buches dürfen wir darüber nachdenken, was die hier versammelten Kurzgeschichten zu Kurzgeschichten von Benedict Wells macht und wir dürfen uns vor allem darauf freuen, hoffentlich irgendwann einen weiteren Band Erzählungen von ihm genießen zu dürfen.

Chapeau!

Benedict Wells: Die Wahrheit über das Lügen | Deutsch
Diogenes 2018 | 256 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen