Axel Brauns: Buntschatten und FledermäuseUnd ich durfte mich dabei nicht überfahren lassen. Das war immer noch wichtig.

Solche Sätze sind typisch für Axel Brauns Roman »Buntschatten und Fledermäuse« – gleichzeitig erschreckend berührend und auf eine schreckliche Art zum Lachen. Eng an seine eigene Biographie angelehnt schildert Brauns in dem Roman seine Kindheit und Jugend als Autist. Ich-Erzähler Axel, geboren 1963, stellt als kleiner Junge plötzlich fest, dass er Gesichter nicht mehr richtig erkennen kann. Außerdem versteht er nur manche Worte – sowohl akustisch als auch dem Sinn nach. Vieles, was den Menschen um ihn herum von den Lippen kommt, ist für ihn nur ein Geräusch, und selbst wenn er den Wortlaut versteht, bleiben die Äußerungen für ihn oft ohne Sinn.

Dazu kommt, dass er seinen eigenen Körper nur dann als »anwesend« spürt, wenn er krank ist. Schmerzen empfindet er kaum, aber er lernt mit der Zeit, Ja zu sagen, wenn zum Beispiel Ärzte ihn fragen, ob es brennt, wenn sie Jod auf offene Wunden träufeln. Bei dem Versuch, die Erwartungen anderer zu erfüllen und sich »normal« zu verhalten, gewinnt Axel unter anderem die Erkenntnis, dass es in der Welt der Menschen um ihn herum üblich ist, Dinge zu sagen, die gar nicht stimmen.

Einer der sehr verstörenden Aspekte der Geschichte ist, dass Axels Eltern nicht merken, was mit ihrem Sohn nicht stimmt. Sie denken, er sei zurückgeblieben, dumm. Seine Mutter setzt trotzdem alles daran, dass Axel nicht auf die Sonderschule kommt. Sie lässt ihn zum Beispiel Antworten auswendig lernen, die er in der Schule aufsagt. Das Auswendiglernen bereitet ihm dabei keinerlei Mühe, aber der Sinn dessen, was er auswendig gelernt hat und aufsagt, bleibt ihm meistens verschlossen.

Mit Hilfe von Lexika und Atlanten schafft es Axel, sich auf diese Weise durch die Schule zu lavieren und schließlich sein Abitur als Drittbester seines Jahrgangs abzulegen. Selbst als er volljährig ist, scheint immer noch niemand bemerkt zu haben, dass er Autist ist – er selbst nicht, nicht seine Eltern und sein Bruder, nur eine Schulfreundin gibt ihm eine Kurzgeschichte zu lesen, in der Autismus wohl eine Rolle spielt, die Axel aber nicht versteht. Für ihn sind Menschen entweder Buntschatten, wenn sie nett zu ihm sind, oder Fledermäuse, wenn sie es nicht sind.

Axel wird bald klar, dass die Welt um ihn herum, die Welt der anderen Menschen, ihm für immer verschlossen bleiben wird, so sehr er sich auch bemüht, sie zu enträtseln. Taten, Worte und Reaktionen seiner Mitmenschen bleiben für ihn unberechenbar. Er leitet zwar Regeln aus dem Verhalten der anderen ab und versucht, sich danach zu richten, scheitert aber oft genug kläglich – zum Beispiel bei seinem Versuch, sich eine Freundin zuzulegen, die gut aussieht und schöne Brüste hat, weil er von seinen Mitschülern gehört hat, dass eine Freundin diese Kriterien erfüllen müsse. Als sie ihn fragt, ob er eine Beziehung mit »küssen und so« meine, weiß er nicht, was sie mit »und so« meint. Oder eben die Regel, sich nicht überfahren zu lassen.

Allmählich stellt er fest, dass er zwar unbegrenzt Definitionen aus Wörterbüchern auswendig lernen kann, Gefühle aber nie verstehen oder fühlen wird wie andere Menschen. Auch der Tod seines Vaters geht relativ spurlos an ihm vorüber; Axel fragt sich lediglich, warum Menschen offensichtlich Angst davor haben, »auf den Friedhof umzuziehen«.

Kein Wunder, dass Axel auch ganz anders mit Sprache umgeht. Es ist beeindruckend, mit welcher Originalität Brauns die autistische Weltsicht und Wahrnehmung seines Protagonisten einfängt – fast ein bisschen wie im ersten Kapitel von Faulkners Roman »The Sound and the Fury«, wenn auch deutlich einfacher zugänglich. Als Leser gewinnt man dabei an vielen Stellen eine ganz neue Sichtweise auf Sprache und ihre Art, die Welt abzubilden.

Axel Brauns: Buntschatten und Fledermäuse. Mein Leben in einer anderen Welt | Deutsch
Goldmann 2004 | 384 Seiten | Jetzt bestellen