Audrey Niffenegger: Die Frau des ZeitreisendenEr ist ich, aber ich bin noch nicht er. Er hat fünf Jahre eines Lebens hinter sich, die ich noch nicht kenne, die noch fest eingerollt sind und darauf warten, aufzuspringen und zuzubeißen. Und alle Freuden, die bereitlagen – er hat sie genossen; auf mich warten sie noch wie eine Schachtel unangetasteter Pralinen.

Zeitreisen mal anders: als Krankheit. Aufgrund eines Gendefekts wird Henry unfreiwillig immer wieder in andere Zeiten transportiert – sowohl in die Vergangenheit als auch in die Zukunft. Dabei hat er keine Kontrolle darüber, wann er eine Zeitreise antritt oder in welcher Zeit er landet. Es befällt ihn einfach, wie ein epileptischer Anfall. Seine Zeitreisen sind begleitet von Übelkeit, der Auslöser ist oft emotionaler Stress. Henry kämpft sein ganzes Leben dagegen an, versucht es auch mit Medikamenten, aber ohne Erfolg.

Was ihm hilft, in seiner Gegenwart zu bleiben, ist unter anderem Sex, Meditieren und Laufen. Seine Fähigkeiten als Läufer trainiert er auch deswegen leidenschaftlich, weil er bei seinen Zeitreisen nichts mitnehmen kann: Immer kommt er nackt zu sich und muss sich als erstes, um nicht aufzufallen, verstecken und irgendwie Kleidung ergattern. Auch auf die Dauer, wie lange Henry in einer anderen Zeit bleibt, bevor er in seine Gegenwart zurückkehrt, hat er keinen Einfluss – mal sind es nur Minuten, mal Tage.

Im Gegensatz zu den meisten anderen Zeitreisenden in Film und Buch hat Henry kein Problem damit, früheren oder späteren Versionen seines eigenen Ichs zu begegnen – ganz im Gegenteil: Er unterhält sich oft mit sich selbst und erzählt seinem Ich (und anderen Leuten) auch teilweise von der Zukunft. Das typische Zeitreisen-Paradox, dass jemand die Zukunft verändert, indem er die Vergangenheit ändert, hat die Autorin gelöst, indem Henry schlicht nichts verändern kann. Hilflos muss er zum Beispiel immer wieder mit ansehen, wie seine Mutter bei einem Verkehrsunfall stirbt. Und doch beeinflussen sich seine Vergangenheit und Zukunft gegenseitig: Henry ist jedoch überzeugt, dass er zukünftige Dinge nur dann »heraufbeschwören« kann, wenn sie sich sowieso, auch ohne seinen Einfluss, zutragen würden.

Vor dem Hintergrund dieser Zeitreisethematik spielt sich die Liebesgeschichte zwischen Henry und der Frau aus dem Titel, Clare, ab. Als Henry Clare das erste Mal begegnet, ist er 28 und sie ist 20. Clare jedoch ist einer älteren, zeitreisenden Version von Henry schon das erste Mal begegnet, als sie 6 war. Sie kennt Henry, oder vielmehr sein zukünftiges Ich, also bei ihrer ersten Begegnung in der Gegenwart schon etliche Jahre, Henry kennt sie dagegen noch gar nicht. Und umgekehrt ist Henrys älteres Ich bereits seit Jahren mit Clare verheiratet, als sie ihn als Kind das erste Mal sieht. Damit der Leser es einfacher hat, steht über jedem Kapitel das Datum, wie alt die Protagonisten jeweils sind und ob aus Henrys oder Clares Perspektive erzählt wird.

Geschickt verfolgt Audrey Niffenegger den spannenden Lebensweg der beiden ab ihrer (für Henry) ersten Begegnung, springt dabei Henrys Zeitreisen entsprechend immer wieder vor und zurück und spielt virtuos mit Ursache und Wirkung. An den Figuren wird deutlich, wie sehr Identität aus Erinnerung besteht und wie sehr Erwartungen – anderer und eigene – einen Charakter formen können. Clare ist zum Beispiel mit dem Problem konfrontiert, dass sie sich eigentlich in den älteren Henry verliebt hat, zu dem der junge Henry erst werden muss – als wären es zwei verschiedene Menschen.

Clare kann Henry auf seinen Zeitreisen nicht begleiten und ist deswegen immer wieder dazu verurteilt, auf ihn zu warten, wenn er in eine andere Zeit verschwindet. An Clare wird deutlich, dass alle Menschen mental Zeitreisende sind und sich gedanklich viel öfter in der Vergangenheit oder Zukunft aufhalten als in der Gegenwart.

Die Liebesgeschichte in Kombination mit den Zeitreisen wirft einerseits tiefgründige Fragen über Identität und Zeit auf und ist andererseits oft einfach amüsant und spannend. Ungefähr ab der Hälfte wird der Roman zunehmend dunkler und trauriger, als Henrys Wissen um die Zukunft seine Gegenwart immer mehr überschattet und Henrys Krankheit von einem kuriosen, spannenden Geheimnis zwischen den beiden Liebenden zu einem Leiden wird, das sie daran hindert, ein »normales« Leben zu führen.

Das Wissen, wie wenig Zeit Henry und Clare gemeinsam haben, macht diese Zeit fast unerträglich wertvoll und das Warten, zu dem Clare gezwungen ist, umso qualvoller. Dadurch macht »Die Frau des Zeitreisenden« dem Leser vor allem eines klar: wie wichtig es ist, Zeit bewusst zu erleben und das Leben zu genießen – in der Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft.

Audrey Niffenegger: Die Frau des Zeitreisenden | Deutsch von Brigitte Jacobeit
Fischer 2005 20. Auflage | 544 Seiten | Jetzt bestellen