Arthur Schnitzler: TraumnovelleÜber mein Unbewusstes, mein halb Bewusstes wollen wir sagen – weiß ich aber noch immer mehr als Sie, und nach dem Dunkel der Seele gehen mehr Wege, ich fühle es immer stärker, als die Psychoanalytiker sich träumen (und traumdeuten) lassen.

So Arthur Schnitzler in einem Brief an Theodor Reik, den Autor des Buches »Arthur Schnitzler als Psycholog«. Zu der Zeit, als Schnitzler lebte und schrieb, noch dazu in Wien, lagen die Ideen Freuds allgemein in der Luft, und sein Skandalwerk, die »Traumnovelle«, ist natürlich entsprechend oft tiefenpsychologisch analysiert worden. Heute dürfte das Werk den meisten Lesern bekannt sein als die Buchvorlage für den Stanley Kubrick Film »Eyes Wide Shut«, der sich erstaunlich getreu an Schnitzlers Handlungsverlauf orientiert, wenngleich er die Ereignisse vom Anfang des 20. Jahrhunderts an dessen Ende verlegt – wozu eigentlich überraschend wenig Änderungen notwendig sind.

Die Geschichte selbst besteht daraus, dass Albertine und Fridolin, eigentlich ein glücklich verheiratetes Paar mit einer Tochter, sich eines Nachts die Abgründe ihrer Seelen gestehen. Nach außen hin führen sie eine perfekte bürgerliche Ehe: Er ist als Arzt tätig, sie kümmert sich um das Haus und die Kinder. Am Tag nach einer Party, auf der sie beide das Gefühl haben, die sich dort bietenden Gelegenheiten für romantische Abenteuer nicht ergriffen zu haben, gesteht Albertine Fridolin, dass sie einmal am Anfang ihrer Ehe bereit gewesen wäre, sich einem Offizier hinzugeben und wegen ihm auf der Stelle, ohne zu zögern und überlegen zu müssen, ihre Familie zu verlassen.

Wenig später, bevor sie sich aussprechen können, wird Fridolin zu einem Patienten an dessen Totenbett gerufen, danach will er wegen Albertines Geständnis nicht mehr nach Hause. In derselben Nacht bieten sich ihm vier Möglichkeiten, fremdzugehen, die er alle nicht ergreift. Als er schließlich doch nach Hause kommt, erzählt Albertine ihm einen Traum, in den sie ihn betrügt und tatenlos zusieht, wie er hingerichtet wird, woraufhin sich Fridolin wirklich an ihr rächen will und am nächsten Tag versucht, alle vier Gelegenheiten, die sich ihm boten, sie zu betrügen, wahrzunehmen, doch diesmal stellt sich ihm bei jeder einzelnen ein unerwartetes Hindernis in den Weg, das verhindert, dass es so weit kommt.

In der Nacht, in der Fridolin plötzlich nicht mehr nach Hause will, ohne es ich selbst ganz erklären zu können, entdeckt er seltsame, wahnwitzige und abenteuerlustige Seiten an sich, und verwickelt sich absichtlich in mysteriöse, teils auch sehr gefährliche Ereignisse, die manchmal traumhafte, unwirkliche Züge annehmen. Am Ende gesteht er Albertine alles und sie versöhnen sich wieder, aber Schnitzler bietet keineswegs eine Lösung dafür, wie der Mensch am besten mit den verborgenen Abgründen seines Seelen- und Trieblebens umgehen und gleichzeitig ein normales Leben führen soll; er zeigt lediglich, wie brüchig die Normalität der menschlichen Existenz und die Identität des Einzelnen im allgemeinen sind:

Ganz flüchtig, nicht etwa wie ein Vorsatz, kam ihm der Einfall, zu irgendeinem Bahnhof zu fahren, abzureisen, gleichgültig wohin, zu verschwinden für alle Leute, die ihn gekannt, irgendwo in der Fremde wieder aufzutauchen und ein neues Leben zu beginnen als ein anderer, neuer Mensch. Er besann sich gewisser merkwürdiger Krankheitsfälle, die er aus psychiatrischen Büchern kannte, sogenannter Doppelexistenzen: ein Mensch verschwand plötzlich aus ganz geordneten Verhältnissen, war verschollen, kehrte nach Monaten oder nach Jahren wieder, erinnerte sich selbst nicht, wo er in dieser Zeit gewesen, aber später erkannte ihn irgendwer, der irgendwo in einem fernen Land mit ihm zusammengetroffen war, und der Heimgekehrte wusste gar nichts davon. Solche Dinge kamen freilich selten vor, aber immerhin, sie waren erwiesen. Und in abgeschwächter Form erlebte sie wohl mancher. Wenn man aus Träumen wiederkehrte zum Beispiel? Freilich man erinnerte sich … Aber gewiss gab es auch Träume, die man völlig vergaß, von denen nichts übrig blieb als irgendeine rätselhafte Stimmung, eine geheimnisvolle Benommenheit. Oder man erinnerte sich erst später, viel später und wusste nicht mehr, ob man etwas erlebt oder nur geträumt hatte. Nur – nur – !

Übrigens – wer hofft, in der »Traumnovelle« Aufschluss zu finden, was in »Eyes Wide Shut« tatsächlich mit der Frau geschah, die sich für den Protagonisten »opferte«, ob das Ganze ein Spiel oder tödlicher ernst war, wird nicht fündig werden; dies bleibt in der literarischen Vorlage ebenso unklar.

Arthur Schnitzler: Traumnovelle | Deutsch
Artemis & Winkler 2007 | 129 Seiten | Jetzt bestellen