Anthony McCarten: Jack»Die Persönlichkeit eines Menschen hat Dutzende von Facetten. Fahren Sie in einen Ferienort. Sehen Sie sich um. Der humorlose Anwalt schlüpft aus seinem Anzug und verwandelt sich in einen Partylöwen. Der berühmte Schauspieler wird zum erbärmlichen Langweiler. Die eingeschüchterte Hausfrau mausert sich zur hinreißenden Liebhaberin, wird ein völlig anderer Mensch. Es ist immer das Gleiche, die Sehnsucht nach Flucht …«

Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Mit dem Titel von Richard David Prechts Bestseller lässt sich der Inhalt von Anthony McCartens neuem Roman »Jack« perfekt zusammenfassen. Es geht um Jack Kerouac, einem der wichtigsten Köpfe der Beat Generation und Autor des Kultbuchs »On The Road« (dt. »Unterwegs«), das als Manifest der Beatniks gilt. Im Frühjahr 1968 ist Kerouac jedoch längst nicht mehr der gefeierte Schriftsteller, der er vielleicht einmal war oder als den viele ihn sehen wollen. Er lebt zurückgezogen, von der Öffentlichkeit abgeschottet, im Haus seiner Mutter in Saint Petersburg, Florida. Verbittert darüber, dass die Literaturkritik ihn nicht ernst nehmen will und Fans sein Werk völlig falsch interpretieren, verfolgt er im Wesentlichen nur noch ein Ziel: sich zu Tode saufen.

Doch dann steht Jan Weintraub vor seiner Haustür, eine junge Literaturstudentin. Sie verehrt Kerouac und will unbedingt seine Biographin werden. Sie hofft auf Kerouacs Einwilligung und darauf, einen Zugang zu seiner sorgfältig archivierten Korrespondenz zu bekommen, zu den Briefen von Kerouacs Mitstreitern Allen Ginsberg, William S. Burroughs und vor allem Neal Cassady, den Keroauc in »On The Road« in der Figur des Dean Moriarty literarisch verewigte.

Zunächst versucht Kerouac die Literaturstudentin abzuwimmeln. Doch die junge Frau ist hartnäckig und gewinnt nach und nach das Vertrauen des grantigen Schriftstellers. Schließlich willigt Kerouac ein und erlaubt, die Gespräche mit ihm auf Tonband festzuhalten. Er ist ihr sogar beim Bedienen des Tonbandgeräts behilflich. Doch die Zusammenarbeit währt nur kurz. Ein gemeinsamer Besuch in einer Bar gerät außer Kontrolle. Kerouacs dritte Ehefrau Stella erteilt der Literaturstudentin daraufhin ein Hausverbot. Die Lage droht noch weiter zu eskalieren, als Jan Weintraub sich nur einen Tag später heimlich ins Haus der Kerouacs schleicht, um in Jacks Archiv herumzustöbern. Denn hierbei wird sie auf frischer Tat ertappt.

Erzählt ist damit gerade mal der erste Teil bzw. ca. die Hälfte des Buches. Es hält einige überraschende Wendungen parat, die an dieser Stelle aber nicht verraten werden sollen. Nur soviel: »Jack« ist ein gelungenes Spiel mit Identitäten, wobei es nicht nur um die mindestens zwei Gesichter des Jack Kerouac geht. Der letzte Lebensabschnitt des Schriftstellers, getränkt in Alkohol, gibt natürlich kein so schönes Bild ab. Doch McCarten, selbst ein großer Kerouac-Verehrer, beschreibt diese letzten Tage, ohne dem »King of the Beats« die Würde zu nehmen. Er erzählt die fiktive, zu keinem Zeitpunkt langweilige Geschichte mit viel Herz und Humor.

Für Kerouac-Fans ist »Jack« Pflichtlektüre. Doch auch alle, die »On the Road« noch nicht gelesen haben oder sich einstweilen wenig mit der Beat Generation beschäftigten, können bedenkenlos zugreifen. Ein kurzer Blick auf Kerouacs Leben und Werk sollte reichen, um die Freude teilen zu können, die ich mit diesem Buch hatte.

Anthony McCarten: Jack | Deutsch von Manfred Allié und Gabriele Kempf-Allié
Diogenes 2018 | 256 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen