all_the_light_we_cannot_seeWerner is succeeding. He is being loyal. He is being what everybody agrees is good. And yet every time he wakes and buttons his tunic, he feels that he is betraying something.

Werner Pfennig, ein Waisenkind mit weißem Haar, wächst in den 1930er-Jahren zusammen mit seiner Schwester Jutta in einem Waisenhaus in der Zeche Zollverein im Ruhrgebiet auf – heute Bergbaumuseum und Unesco-Welterbe. Werners Vater ist im Bergwerk zu Tode gekommen und dem Jungen graut vor dem Tag, wenn er, wie es vorgeschrieben ist, als Jugendlicher selbst zu der Arbeit unter Tage herangezogen werden wird. Doch es kommt anders: Werner ist technisch und mathematisch begabt. Durch sein Geschick im Reparieren von Radios fällt er den Nationalsozialisten auf und kommt auf eine militärische Eliteschule – für Werner die einzige Möglichkeit, die er sieht, einer für ihn erdrückenden Zukunft als Bergbauarbeiter zu entkommen.

Auf der Schule trägt Werner dazu bei, eine Technik zu entwickeln, die es den Nazis erlaubt, feindliche Radiosender aufzuspüren. Zunächst freut Werner sich über die wissenschaftliche Arbeit und über seinen Erfolg und versucht, das latent schlechte Gefühl, das die Nazipropaganda in ihm verursacht, zu unterdrücken und nicht aufzufallen. Wenig später wird sein Alter gefälscht und er wird als 18-Jähriger – in Wirklichkeit ist er erst 16 – an die Front in Russland geschickt. Während er sich noch fragt, ob er das als Belohnung oder Bestrafung seines Mathelehrers auffassen sollte, sieht er, wozu seine Technik angewandt wird.

Parallel zu Werners Geschichte konstruiert der Autor Anthony Doerr, der Amerikaner ist, einen Erzählstrang rund um ein blindes Mädchen, Marie-Laure, die in Paris als Halbwaise mit ihrem Vater aufwächst, der für das Naturkundemuseum arbeitet. Als die Deutschen Paris besetzen, fliehen die beiden in den Küstenort Saint-Malo zu Marie-Laures Onkel Etienne, der noch vom Ersten Weltkrieg so traumatisiert ist, dass er sein Haus nicht verlässt.

Wie der Roman Marie-Laure und Werner zusammenführt, ist zugegebenermaßen wenig plausibel: Etienne beherbergt in seinem Haus ein Radio, über das die Résistance verschlüsselte Botschaften verschickt – ein Sender, den Werners Einheit gegen Kriegsende aufspüren soll. Als Kind hat Werner jedoch auf einem selbstgebastelten Radio wissenschaftliche Vorlesungen von Marie-Laures Großvater gehört, die von diesem Sender ausgingen. Als er diese Verbindung herstellt, beschließt er, Verräter zu werden und Marie-Laure zu retten.

Die Erzählung springt nicht nur zwischen den Figurenkreisen um Werner und Marie-Laure hin und her, sondern auch zwischen dem August 1944, als Saint-Malo von den Alliierten bombardiert und Werner unter Trümmern verschüttet wird, den frühen 1930er-Jahren sowie Ereignissen in den Jahren zwischen 1940 und 1942. Das Ende des Romans wirft einen Blick auf die überlebenden Figuren in den 1970er-Jahren und der Gegenwart. Die kunstvollen Verbindungen zwischen den Figuren und Ereignissen, die Doerr anhand vieler kleiner Details schafft, wirken zwar nicht übermäßig konstruiert, können aber nicht überdecken, wie wenig plausibel der Plot ist. Das muss einen aber nicht stören. Die ersten rund hundert Seiten lesen sich eher zäh, aber dann packt einen die Geschichte doch und man will wissen, wie sie ausgeht.

Doerrs Roman wirft nicht wirklich neue Fragen über den Zweiten Weltkrieg auf. Anhand von Werners Geschichte versucht er, sich dem ewigen Problem anzunähern, wie ganz gewöhnliche Deutsche zu Monstern werden konnten. Indirekt stellt er auch die Frage, ob der Holocaust einzigartig ist. Kritiker in den USA werfen ihm auch vor, dass er das Leid der Deutschen im Krieg genauso darstelle wie das der Alliierten, dass er den Holocaust relativiere, ästhetisiere, sentimentalisiere und dadurch normalisiere.

Ganz grundlegend stellt der Roman die Frage, woher man weiß, was falsch und was richtig ist. Als Etienne Marie-Laure an die vielen Toten aus dem Ersten Weltkrieg erinnert und ihr klarmacht, dass das, was sie tun, auch Menschenleben kostet, sagt sie, aber wir sind auf der guten Seite, und er antwortet, dass er es hoffe. Das Motiv eines fluchbeladenen Diamanten, das Doerr in seine Erzählung einwebt, wirft die zeitlose Problematik auf, wie frei der Mensch in seinen Entscheidungen ist. Wie es Werners Freund drastisch formuliert: »Your problem is that you still believe you own your life.«

Anthony Doerr: All the light we cannot see | Englisch
Fourth Estate 2014 | 544 Seiten | Jetzt bestellen