Anne Reinecke: LeinseeAls Debütantin bezeichnete man einst eine junge Frau, die »in die Gesellschaft eingeführt wird«. Der Begriff leitet sich vom französischen début ab, was sich mit Anfang übersetzen lässt. Die junge Autorin Anne Reinecke ist eine solche Debütantin, hat sie doch zu Beginn des Jahres im Diogenes Verlag ihren ersten Roman mit dem Titel »Leinsee« vorgelegt. Darin entführt sie ihre Leserschaft in die ganz eigene Welt der Künstler – farbenprächtig, laut, intensiv duftend und doch einfühlsam und leicht.

Karl Sand ist der Sohn des berühmten Künstlerehepaares Ada und August Stiegenhauer. Seinen Nachnamen trägt er als Pseudonym seit seinem Eintritt ins Internat, das die Eltern für ihn ausgesucht hatten. Ihr inniges Verhältnis zueinander und die enge künstlerische Verbindung ließen für die Bedürfnisse eines Kindes keinen Raum. Selbst in den Ferien fühlte Karl sich als ungeliebter Gast, der nur den künstlerischen Fluss störte. Nach dem Abitur brach Karl die Verbindung zu seinen Eltern ab.

Nun hat sich sein Vater erhängt, weil er den Schmerz über die schwere, lebensbedrohliche Erkrankung der Mutter nicht ertragen konnte. Diese Nachrichten führen ihn nach Jahren zurück zu seinen Wurzeln. Wie geht der junge Künstler mit der Reise in die Vergangenheit um, die er bisher von sich geschoben, jedoch nie verarbeitet hat? Wer ist der Karl Sand, der gerade dabei ist, sich selbst in Berlin einen Namen in der Szene zu machen? Soll er das Haus in Leinsee und das elterliche Atelier übernehmen? Oder gleich alles verkaufen?

Die Ereignisse bringen ihn aus dem Gleichgewicht. Seine Mutter erkennt ihn nach der Operation nicht mehr und hält ihn für ihren geliebten August. Karl lässt sie (anfangs noch zögernd) in ihrem Glauben. Seine geschäftstüchtige Lebensgefährtin möchte so schnell wie möglich in die Hauptstadt zurückkehren und setzt ihn unter Druck. Doch Karl erlebt erstmals Nähe zu seiner Mutter und genießt, selbst in den skurrilsten Situationen.

Außerdem fasziniert ihn ein achtjähriges Mädchen aus dem Ort mit ihrer Unbekümmertheit und ihrer direkten Art. Ohne viel Worte verstehen sich die beiden. Durch Tanjas Lachen wird alles viel leichter. So wie sie unerwartet auftaucht, verschwindet sie wieder. Plötzlich werden Gürtelschnallen, Federn, riesige Schneekugeln oder gar eine Taube im Käfig zu wahren Schätzen. Während einer verrückten Teeparty gewinnt Tanja das Herz von Mutter Stiegenhauer, die in ihren kognitiven Fähigkeiten sehr eingeschränkt ist. Weckt Tanja Karl aus seiner Lethargie?

Anne Reinecke beschreibt so behutsam wie poetisch Karls Geschichte von seiner verlorenen Kindheit zu sich selbst. Ihre Sprache ist an Metaphern reich, ihre Sätze sind eben solche Kunstwerke wie die ihrer Protagonisten. Wer hat schon einen »Vaterbrief« erhalten, dem »Fiepsen des Mutterpulses« gelauscht oder gar »klebriges Plastikbechereis« gegessen? Anne Reineckes Farbspektrum reicht vom »Kanarienvogelgelb«, »Regentageblau« bis hin zum »Gottweiß«. Hier liest man nicht nur, man sieht, hört und riecht geradezu. Federleicht schwebt der Leser durch diese Geschichte vom Loslassen, Ankommen und … natürlich von der Liebe.

Aller Anfang soll sprichwörtlich schwer sein. In »Leinsee« hat sich das noch nicht herumgesprochen. Dort ist die Welt für Debütantinnen »Metallic-golden«.

Anne Reinecke: Leinsee | Deutsch
Diogenes 2018 | 368 Seiten | Leseprobe und mehr | Bestellen