Abraham Riesman: True Believer: The Rise and Fall of Stan LeeWer war Stan Lee? Eine scheinbar einfache Frage, die schwieriger zu beantworten ist, als man zunächst denkt. Die meisten Leute kennen Lee nur aus seinen Gastauftritten in Marvel-Filmen, die er seit zwei Jahrzehnten absolvierte. Comiclesern ist er durch die Zeile »Stan Lee presents« vertraut, die nach seinem Aufstieg zum Verleger 1972 in jedem Heft auftauchte. Lee galt als Vater des gesamten Marvel-Universums, das mittlerweile nicht nur die Kinoleinwände beherrscht, sondern auch die Streaming-Plattformen. Für die Öffentlichkeit war er »Smilin‘ Stan«, ein geriatrischer Hipster mit ewig präsenter Sonnenbrille, der für jeden Spaß zu haben war.

Zwar wurden schon zu seinen Lebzeiten einige Bücher über ihn veröffentlicht, doch mit der Recherche nahm man es dabei meist nicht so genau. Abraham Riesmans Buch »True Believer: The Rise and Fall of Stan Lee« ist daher das erste Buch über ihn, das man ernsthaft als seriöse Biografie bezeichnen kann. Schon ein Blick in den Anhang zeigt, dass Riesman bei seinen Nachforschungen ganze Arbeit geleistet hat. Schnell erfährt man: Das Bild, das der Marvel-Guru über Jahrzehnte aufgebaut hatte, war so falsch wie seine Haare. Als die Biografie im Frühjahr 2021 erschien, waren viele Leser schockiert.

Bereits vor Lees Tod im Jahre 2018 wurden Gerüchte laut, dass der 95-jährige ein Opfer häuslicher Gewalt geworden sei. Tochter J.C. dementierte diese Gerüchte zwar, doch Riesmans Buch lässt ernsthafte Zweifel aufkommen. In seinen letzten Tagen war der alte Herr offensichtlich nur von Blutsaugern umgeben, denen mehr an seinem Vermögen lag, als an seinem Wohlergehen. Etliche Filme, die von Lees Assistenten Keya Morgan aufgenommen wurden, beweisen dies, behauptet Riesman.

Doch nicht nur das Ende der Comic-Legende ist ernüchternd. Riesman schildert ihn als Opportunisten, der es allein durch Vetternwirtschaft zum Chefredakteur gebracht hatte. Selbst die oft kolportierte Geschichte vom Schreibwettbewerb der »New York Herald Tribune«, den er als Teenager angeblich dreimal hintereinander gewonnen haben wollte, war ein Produkt seiner Fantasie. Überhaupt fand Stan Lees größte Kreativleistung auf dem Gebiet der Selbstpromotion statt.

Zwei Jahrzehnte war er ein unscheinbares Rädchen im Comicgetriebe seines Onkels Martin Goodman, bis er 1961 das »Marvel Age of Comics« lostrat. Die »Marvel-Method« revolutionierte das Medium. Da Lee keine Zeit hatte, detaillierte Szenarien zu schreiben, sprach er mit seinen Künstlern nur kurz die Handlung durch, die sie hinterher zu zeichnen hatten. Oft bestand ein Plot aus wenigen Sätzen, aus denen die Zeichner eine komplette Story zu stricken hatten. Lee fügte den fertigen Zeichnungen danach die Sprechblasentexte hinzu. Dass seine wichtigsten Mitarbeiter, die Zeichner Jack Kirby und Steve Ditko den Löwenanteil der Zusammenarbeit stemmen mussten, sorgte auf Dauer für Unzufriedenheit. Als sie mehr Geld und Anerkennung forderten, kam es zum Zerwürfnis.

Als Marvel Ende der Sechzigerjahre von den Medien entdeckt und Lee als dessen kreativer Kopf hochgejubelt wurde, legte sich der fast kahlköpfige Comicschreiber einen Bart und ein Toupet zu und erfand sich als mit Alliterationen um sich werfender Swinger neu. Aus Stanley Martin Lieber wurde Stan Lee. Hierin lag vielleicht sein größtes Talent. Fortan ließ er sich von der Presse feiern und hielt Vorträge an Universitäten. Irgendwann glaubte er vermutlich selbst an seine Genialität.

Nachdem Lee es nach einem Verkauf der Firma geschafft hatte, sich in den Verlegersessel zu manövrieren, begann, wie der Titel des Buchs andeutet, der Niedergang des Comicschreibers. 1972 hörte er auf, eine kreative Kraft zu sein und lebte bis zu seinem Ende vom Abglanz seiner einstigen Erfolge. Vergeblich versuchte er Hollywood für seine Superhelden zu interessieren. Bis auf wenige mehr oder weniger erfolgreiche Fernsehserien blieben seine Bemühungen erfolglos. Ironischerweise änderte sich das Blatt erst um die Jahrhundertwende, als Lee schon längst kein Mitspracherecht mehr besaß.

Der Titel des »Executive Producers«, als der er in vielen Filmen aufgelistet wurde, war nur ein Ehrentitel. Und auch für seine Kurzauftritte in Filmen erhielt er nicht mehr als den gewerkschaftlichen Mindestlohn. Der stets unter Geldnot leidende Lee ließ sich mit zwielichtigen Geschäftemachern ein, mit denen er 1998 Stan Lee Media gründete, um von seinem Ruhm zu profitieren, nur um am Ende vor Gericht zu landen, nachdem die Dotcom-Blase explodiert war.

Auch POW! Entertainment, sein nächstes Unternehmen, wurde von vielerlei Problemen geplagt. Eines davon war die Tatsache, dass Lee nach 1972 keine gute Idee mehr hatte. Was dies betraf, war er offenbar stets auf seine Mitarbeiter angewiesen. Im Archiv des Verstorbenen sichtete Riesman etliche Notizzettel, auf denen Stan Lee seine Geistesblitze verewigte. Um es milde auszudrücken: Ein zweiter Spider-Man war nicht dabei. Das bekannteste seiner Spätwerke ist vielleicht noch die TV-Serie »Stripperella«, der Pamela Anderson ihre Stimme lieh.

Auch das Leben in Hollywood war nicht einfach: Daheim hatte er mit seiner Tochter J.C. zu kämpfen, die auch mal handgreiflich werden konnte, wenn die Dinge nicht so liefen, wie sie wollte. Sie und Joan, seine Ehefrau, gaben das Geld aus, als fließe es aus dem Wasserhahn. So kam es, dass der Hochbetagte stundenlange Autogrammstunden geben musste, für die er fürstlich honoriert wurde. Fast erblindet konnte er am Schluss kaum seinen eigenen Namen schreiben.

Von 1961 bis 1972 war Stan Lee jedoch der Mann, der die amerikanischen Comics revolutionierte. Er war der Schöpfer von »Spider-Man«, der »Fantastischen Vier« und den »Avengers«. Nur tat er dies nicht allein, sondern mit Hilfe begabter Zeichner, die mindestens so viel wie er zum Erfolg der Marvel Comics beitrugen, allen voran Jack Kirby. Comic-Experten war dies seit Jahrzehnten bekannt. Die breite Masse jedoch sah Stan Lee als eine Art modernen Walt Disney.

Riesman lässt in seinem Buch viele Zeitzeugen zu Wort kommen, darunter auch Lees jüngeren Bruder Larry Lieber. Während Lee in einem exklusiven Viertel in Beverly Hills lebte, wohnt Lieber seit vielen Jahrzehnten in einem winzigen Einzimmerapartment in Manhattan. Eine enge Beziehung zu seinem berühmten Bruder hatte er zu seinem Bedauern nie. Ihre emotionale Distanz zieht sich wie ein roter Faden durchs Buch. Als aus Stanley Martin Lieber offiziell Stan Lee wurde, ließ er wohl auch seine Vergangenheit hinter sich.

Lee starb als mehrfacher Millionär. Und doch ist seine Lebensgeschichte keine Erfolgsgeschichte, denn die großen Werke, von denen er oft sprach, hat er nie geschrieben. Die meiste Zeit war er damit beschäftigt dem Geld hinterherzujagen. Außer seiner Frau und seiner Tochter schien es niemanden zu geben, der ihm wirklich etwas bedeutete.

Riesmans Buch wirkt lange nach, vielleicht weil seine Hauptfigur nie greifbar ist. Man bekommt den Eindruck, dass der wahre Stan Lee stets hinter einem unverbindlichen Lächeln und einer Sonnenbrille verborgen blieb. Seine Geschichte zeigt, was passiert, wenn man dem amerikanischen Traum blindlings hinterherrennt. Sein einstiger Mitstreiter und späterer Rivale, Jack Kirby, besaß zwar keine Millionen, doch er starb umgeben von vielen Freunden und einer Familie, die ihn innig liebte. Die Moral, die wir hieraus ziehen können, ist zwar platt und simpel – aber das waren Marvel Comics ja immer.

Abraham Riesman: True Believer: The Rise and Fall of Stan Lee | Englisch
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