»Deutsche Unterwäsche ist das beste für Auschwitz«, wird der EU-Beamte Martin Susmann vor seiner Dienstreise in die Gedenkstätte informiert. Wegen der Kälte. Bei seinem Versuch, eine Garnitur in Brüssel zu erstehen, preist die Verkäuferin ihm ein Modell aus Angora an – made in Germany, deshalb garantiert ohne Tierquälerei, und außerdem entspreche es bereits der EU-Richtlinie, die neuerdings das Brennverhalten von Unterwäsche regle.
Wer das geschmacklos findet, für den ist »Die Hauptstadt« nichts; wer diese Art von schwarzem Humor liebt, sollte sich den Roman nicht entgehen lassen. In »Die Hauptstadt« geht der österreichische Autor Robert Menasse (geboren 1954) auf 459 Seiten der Frage nach, was EU-Beamte eigentlich den ganzen Tag so treiben und was seit ihren Gründungstagen aus der EU und der europäischen Idee in unserer heutigen Zeit geworden ist. Gelingt es ihr noch, den Frieden zu sichern?
Im Mittelpunkt stehen dabei hauptsächlich Mitarbeiter des wenig geachteten Kulturreferats, die zum 50-jährigen Jubiläum der EU eine Feier organisieren müssen, die endlich mal die Umfragewerte der EU in puncto Beliebtheit heben soll. Bei seiner Dienstreise nach »Polen«, wie Martin Susmann auf die Nachfrage der Verkäuferin nach seinem Reiseziel antwortet, kommt ihm die Idee, Holocaust-Überlebende in den Mittelpunkt der Feierlichkeiten zu rücken. Die Kulturmitarbeiter müssen jedoch feststellen, dass diese Überlebenden trotz aller Dokumentationswut der EU gar nicht so leicht aufzutreiben sind. Schließlich seien Überlebende eines KZs nicht wie Alumnis von einer Universität.
Dazu muss sich Martin Susmann auch noch mit seinem Bruder, einem Schweinezüchter, herumschlagen, der auf verlorenem Posten gegen China kämpft, und mit seiner Vorgesetzten, einer Griechin, die unbedingt aus »der Kultur« weg möchte. Auch noch mit von der Partie sind unter anderem ein desillusionierter Kommissar, dem ein mysteriöser Mordfall entzogen wird, ein katholischer Auftragsmörder und ein origineller Professor, der vorschlägt, Auschwitz endlich zur Hauptstadt der EU zu machen – eigentlich gar keine schlechte Idee.
Menasse verwebt die einzelnen Stränge seiner Handlung und die Schicksale der Figuren auf kunstvolle Art und führt sie am Ende alle zusammen. Anstatt zu politisieren, präsentiert er dem Leser wirkungsvolle und vielschichtige Bilder, deren Bedeutung sich rein rational nie ganz entschlüsseln lassen. Das Ergebnis ist ein toller Roman, den man mehrmals lesen und über den man viel diskutieren kann.
Robert Menasse: Die Hauptstadt | Deutsch
Suhrkamp 2017 | 459 Seiten | Jetzt bestellen