
Betrachtet man die Zeichnungen in diesem wahrhaftigen »Tagebuch einer Reise«, kann man sich gar nicht vorstellen, dass ihr Ersteller Craig Thompson an ihnen lediglich jeweils einen Tag gearbeitet haben soll, so fein ausgearbeitet sind sie, bisweilen Kunstwerken gleich. Dieses Tagebuch dokumentiert eine 2004 vollzogene Signier- und Recherchereise des US-Autoren nach Europa und Nordafrika, erzählt also nicht unmittelbar eine Comic-Geschichte, sondern bildet den Zeitverlauf mit seinen Ereignissen ab – und das wankelmütige Innenleben des reflektierten Zeichners. Es lohnt sich hier die Neuauflage mit den Bonus-Seiten.
Für den Kontext: Thompsons zweites Buch, sein eigentlich erstes richtig großes nach dem Auftakt »Good-Bye, Chunky Rice« 1999, ist gleich ein weltweiter Erfolg: Die autobiografische Graphic Novel »Blankets« des damals 28jährigen US-Amerikaners verzaubert ab 2003 die Herzen, in Stil und Inhalt. Was für ein begabter Zeichner Thompson ist! Seine Panels bilden nicht einfach die Geschichte ab, sie sind selbst Gesamtbilder; dieses Stilmittel vertieft er 2011 noch in »Habibi«, für das er in Marokko recherchiert, was man hier im »Tagebuch einer Reise« nachverfolgen kann. Denn eigentlich befindet sich Thompson mit »Blankets« ja in Europa auf Signierreise, nutzt aber die Zeit, um eine Stippvisite übers Mittelmeer in seine Reisepläne zu integrieren.
In der Detailfreude seiner Zeichnungen offenbart sich Thompson als guter Beobachter, der das für ihn Fremde in Europa und Marokko mit einem offenen Blick auf den Punkt erfasst und wiedergibt. Man kann sich als Betrachtender in seinen Skizzen verlieren, so ausgearbeitet und reichhaltig fallen sie aus. Bäume und Katzen, so lässt er wissen, sind seine Lieblingsmotive, und man möchte Gebäude hinzufügen, von französischen Kathedralen bis marokkanischen Siedlungen. Allein für die Standbilder, die Momentaufnahmen, die Schlaglichter lohnt sich schon die Anschaffung dieses Buches, weil Thompson mit ihnen mehr generiert als eine narrative Abfolge von Sequenzen, sondern eigenständige Illustrationen, die man sich auch losgelöst an die Wand hängen mag.
Dennoch sind diese Kunstwerke hier Teil eines weiter gefassten Inhalts, und der besteht aus den Eindrücken, Beobachtungen, Ereignissen, Rechercheergebnissen, Dialogen und inneren Monologen, die Thompson zwischen Frankreich, Marokko und weiteren europäischen Ländern ereilen. Dabei zeigt er sich auch inhaltlich so aufmerksam und respektvoll, wie er es in seinen Zeichnungen ausdrückt, bis hin zu der sympathischen Selbstoffenbarung, dass er als Nutznießer des vergleichsweise minderwertigen US-Bildungssystems von vermeintlich einfachen physikalischen Gesetzmäßigkeiten keine Ahnung hat, die Europäern hingegen sonnenklar sind.
Das Narrative dieses Tagebuchs liegt darin, dass Thompson in chronologischer Abfolge zeichnerisch berichtet, womit er seine Zeit verbringt. Zumeist sind dies, zumindest in Europa, Begegnungen und Treffen mit wahlweise Verlagsmitarbeitenden oder Freunden, in Marokko hingegen mit Einheimischen und anderen Touristen. Jede Begegnung bringt neue Geschichten und Reflexionen mit sich. Aufs Zeichnerische allein verlässt er sich indes nicht, sondern bringt viele Inhalte in Textblöcken unter. Dazu gehören – wie bei »Blankets« und später auch bei »Ginsengwurzeln« – neben philosophischen Exkursen auch seine eigenen Emotionen, Depressionen, Zweifel und weitere autobiografische Details. Insbesondere die selbstanalytischen Aspekte verleihen nicht nur dem Buch, sondern auch dem Autoren eine Tiefe, die ihn umso vertrauenswürdiger macht. Bis auf die Sache mit der Freundin, die ihm abhandenkommt: Seine Weinereien, wenn er Frauen kennenlernt, die vergeben sind, weil dann mit ihnen nichts läuft – und damit meint er netterweise eher Beziehungen als Bettgeschichten –, sind etwas sehr drüber und stoßen irgendwann sogar ab. Aber er zieht das nicht das komplette Buch lang durch, gottlob, und hat ja mehrheitlich andere Schwerpunkte.
Ursprünglich erschien »Tagebuch einer Reise« in den USA bereits 2004, aber in der 2021 nachgereichten Neuauflage mit rund 30 Bonus-Seiten fügt Thompson Details zur Entstehungsgeschichte des Buches sowie weitere Positionen der Reise hinzu. Man erfährt, dass Thompson den Vertrag über dieses Buch so vereinbarte, dass es quasi noch vor Ablauf der Reise in den Druck zu gehen hatte, deshalb ist das ursprüngliche Ende etwas abrupt.
Was nun aber Thompsons Selbstzweifel angeht, so stehen ihm nach Abschluss dieser Reise noch erheblichere bevor: »Habibi« ereilt zwar einige Achtung, aber sein wagemutiges Weltraumabenteuer »Space Dumplings« fällt 2015 bei allen durch, Kritikern wie Lesenden, weshalb er sich zunächst aus dem Geschäft zurückzieht. Und bald das nächste Mammutprojekt startet, denn an den in den USA in zwölf Einzelbüchern plus Bonus erschienenen »Ginsengwurzeln«, eine Mischung aus Autobiografie und Reprotage, arbeitet er von 2019 bis 2024.
Craig Thompson: Tagebuch einer Reise | Deutsch von Matthias Wieland
Reprodukt 2021 | 256 Seiten | Jetzt bestellen
