J.M.A. Biesheuvel: Reise durch mein ZimmerEin Zimmer in der Dunkelheit der Nacht, ein Studienzimmer, in dem nur ein Lichtlein brennt, ein Zimmer, in dem ein Mann, auf einer alten Schreibmaschine tippend, sein Zimmer beschreibt, das könnte die ganze Welt sein.

Der holländische Schriftsteller Jacobus Martinus Arend (J.M.A.) Biesheuvel (1939 – 2020) wurde 1972 mit seinem Band »In de bovemkool« (deutsch: »Oben im Ausguck«) in den Niederlanden von heute auf morgen populär. Er gilt dort als ein Meister der Kurzgeschichte. Seit 2015 wird in den Niederlanden jährlich der Biesheuvelpreis für den besten Kurzgeschichtenband ausgelobt. Eine erste Auswahl seiner Geschichten erschien 1986 in deutscher Sprache beim Suhrkamp Verlag. Biesheuvels Bekanntheitsgrad in Deutschland hielt sich jedoch bisher in Grenzen.

Das Erscheinen des kleinen, aber feinen Erzählbändchens »Reise durch mein Zimmer« beim Leipziger Verlag Faber & Faber im vergangenen Jahr ermöglicht die sehr verspätete Entdeckung von vier Geschichten. Wie reist man um die ganze Welt, ohne einen Fuß vor das eigene Zimmer zu setzen? Kann ein Moped auf hoher See fahren, und wie versetzt man den Matterhorn-Gipfel?

Wer die vorliegenden Texte entdecken will, lässt sich auf surrealistische, groteske Erzählungen ein, die zunächst einmal leicht und humorvoll daherkommen. Sie handeln vom Reisen, von der Familie oder Treffen mit Freunden. Biesheuvel litt sein Leben lang unter Depressionen und konnte deshalb seine Sehnsucht nach anderen Ländern nicht stillen.

Das Thema Fernweh greift er in der Erzählung »Moped auf hoher See« auf, die zu seinen berühmtesten Geschichten zählt. Hier sieht ein Schiffsjunge einen rätselhaften Mopedfahrer übers Wasser fahren, der ihn jedoch auch nach zweifelhaftem Bitten nicht mitnehmen will. Wie verlassen sich der Junge fühlt, lässt sich während der Lektüre gut nachvollziehen.

Was unternimmt jemand mit Sehnsucht nach der Ferne, dessen Bewegungsradius aufgrund einer Erkrankung eingeschränkt ist? Er begibt sich auf die ausgedehnte »Reise durch mein Zimmer«. Dort beschreibt der Autor sein Arbeitszimmer bis ins kleinste Detail. Gleich einer kleinen Autobiografie erkundet man gemeinsam mit dem Verfasser die Herkunft und die Geschichte verschiedener Möbel, Fotos, Geschenke und Erbstücke. Eine zentrale Rolle nehmen dabei seine Eltern ein. Man liest, wie Biesheuvel den einen oder anderen Gegenstand erhalten hat und in welcher Beziehung er dazu steht. Unzählige Verschachtelungen lassen die LeserIn auf immer neue Gegenstände und Geschichtchen stoßen.

Keine Angst, Biesheuvel navigiert die neugierig gewordenen bestimmt durch den Raum, scheint er sich doch sicher und wohlzufühlen. Sein Zimmer vermag ihn zu schützen und gleichzeitig von der unerträglichen Welt fernzuhalten, von der er dennoch nicht lassen kann. Was so lässig dahingeplaudert und erstaunlich erfrischend erscheint, stellt sich beim tiefen Hineinlesen als sehr verdichtet heraus und lässt Biesheuvels freigiebige Lebensgeschichte plastisch wirken.

Der Beschreibung des Arbeitszimmers folgen der sehr kurze surrealistische Text über die Versetzung der Matterhornspitze und der »Brief an Vater«. Betrachtet man die Anordnung der vier Geschichten, scheinen sie sich immer weiter zu vertiefen. In dem Brief an seinen Vater kommt man dem Empfinden von Maarten Biesheuvel (wie er sich selbst nannte) so nahe, dass man seine Gedanken und Gefühle eindrucksvoll nachvollziehen kann. Seine Offenheit berührt und regt zum Nachdenken an.

Betrachtet man dazu die acht feinen schwarz-weißen Bleistiftzeichnungen von Peter K. Kirchhoff, fühlt man sich vollends in das Buch gezogen. Obgleich Biesheuvels Erzählton von Humor geprägt ist, lassen die detailreichen Zeichnungen mit ihren unzähligen Grautönen Melancholie aufkommen. So wie sich der Autor in der Beschreibung seines Arbeitszimmers verliert, entdeckt man bei der Betrachtung der Bilder immer wieder neue Einzelheiten und staunt über die Sorgfalt, mit der der Künstler sich in Biesheuvels Welt eingefühlt hat. Als würden die Zeichnungen die Geschichten weitererzählen! Selten hatte ich vor der Zeichnung eines Elefanten so viel Respekt! Schön, dass das Hardcover auch ein Bild abbekommen hat. Das graue Lesebändchen rundet die liebevolle, äußerst ansprechende Buchgestaltung ab.

Die vier Geschichten wurden von Ulrich Faure ins Deutsche übertragen. Dank ihrer Einzigartigkeit und Intensität erhalten sie die unbedingte Leseempfehlung!

J.M.A. Biesheuvel: Reise durch mein Zimmer | Deutsch von Ulrich Faure
Mit Illustrationen von Peter K. Kirchhoff
Faber & Faber 2021 | 120 Seiten | Jetzt bestellen