Manuela Golz: Sturmvögel»Ich habe das Gefühl, am Ende eines langen Weges wohlbehalten angekommen zu sein. Was will ich denn noch?« (Emmy Seidlitz)

Beinahe ein ganzes Jahrhundert bildet die Autorin Manuela Golz in ihrem aktuellen Werk »Sturmvögel« ab, das beim DuMont Buchverlag erschienen ist. Von der Geschichte ihrer Großmutter inspiriert gelingt ihr damit das Porträt einer toughen Frau, die ihr Leben selbstbestimmt und auf ihre ganz eigene Art meistert.

Emmy Seidlitz ist sechsundachtzig Jahre alt und sagt von sich, dass sie ein gutes Leben hatte. Nun soll sie einen Herzschrittmacher erhalten. Selbstbewusst und eigensinnig entscheidet sie sich gegen den Eingriff. Emmy begreift ihre eigene Endlichkeit und will die ihr verbleibende Zeit nutzen, ihr Erbe zu regeln. Bis man die Zusammenhänge über ihren Nachlass erfährt, liest man sich durch eine bewegte wie bewegende Lebensgeschichte.

Emmy wird 1907 auf einer Nordseeinsel geboren und lebt mit fürsorglichen Eltern und den beiden Geschwistern in sehr einfachen Verhältnissen. Ihre eher hartherzige und verbitterte Großmutter Alma bezeichnet Schulpflicht als Unsinn. Durch den frühen Tod der Eltern und ihrer Oma ist ihre Schulzeit schneller beendet als sie begonnen hat. Der Dorf-Pfarrer vermittelt sie und die beiden Geschwister in drei unterschiedliche Haushalte. Die drei begegnen sich nie wieder.

Knapp vierzehnjährig verdient Emmy ihren Lebensunterhalt als Hausmädchen in einer Berliner Familie. Dank Köchin Luise lebt sie sich schnell ein. Auf den Ersten Weltkrieg folgen die Goldenen Zwanziger Jahre in Berlin. Emmy verliebt sich in Haucke, den Sohn ihres Dienstherren. Der führt sie in eine unbekannte Welt ein.

Emmy zieht drei Kinder groß und behauptet sich erfolgreich gegen ihre niederträchtige Schwiegermutter, der sie wegen ihrer Standesdünkel ein Dorn im Auge ist. Auf ihren Mann kann sie sich nicht verlassen. Die Lebensumstände und ihre Erfahrungen lassen sie ebenso dickköpfig wie selbstbewusst werden. Mit ihrer Unbeugsamkeit, ihrem Humor und pragmatischen Denken überleben sie und ihre drei Kinder den Zweiten Weltkrieg. Manuela Golz zeichnet ein vielschichtiges Bild ihrer Protagonistin und entwickelt die Charaktere ihrer Kinder ebenso gut nachvollziehbar.

Ihre älteste Tochter Hilde hegt keinen Ehrgeiz, ihr Leben selbst zu gestalten. Ihr genügt es, sich von ihrem Mann Günni versorgen zu lassen. Ihr Sohn Otto hat sein Kunstgeschichte-Studium abgebrochen und handelt mit Trödel. Er wirkt weniger organisiert und scheint von der Hand im Mund zu leben. Die jüngste Tochter Tessa wird als herzensgut und gelassen beschrieben. Im fortgeschrittenen Alter kümmert sich Emmy auch noch um die Tochter des verstorbenen Freundes von Tessa. In ihrem neuen Zuhause lebt die kleine Anni auf, findet ihren Weg und zu Emmy ein besonders nahes Verhältnis.

Doch was hat es mit dem mysteriösen Aktenordner auf sich, den Hilde und Otto eines Tages im Keller ihrer Mutter finden? Was verschweigt Emmy ihren Kindern? Besitzt die alte Dame ein Vermögen? Während Anni ihre Zieh-Mutter zu ihrer alten Freundin und Hebamme nach München fährt, reiben sich die beiden Ältesten schon die Hände.

Manuela Golz erzählt mitreißend und spannend. Sie verpackt die Lebensgeschichte ihrer Heldin in berührende Szenen, die lange nachwirken. Der Roman überzeugt mit seinem sanften Ton. Ihre Hauptperson kommt überaus stark daher und sorgt für ununterbrochenen Lesegenuss. Wie Sturmvögel wurde auch sie (vom Wind) getragen und passte sich an die schwierigsten (Witterungs-)Bedingungen an.

Manuela Golz: Sturmvögel | Deutsch
DuMont Buchverlag 2021 | 336 Seiten | Jetzt bestellen