Diejenigen, die nur Hochkultur in ihrem Bücherregal stehen haben, habe ich immer gehasst. Es gibt eine ganze Menge Menschen, die in ihrem Wohnzimmer nur Thomas Mann, Herrmann Hesse, Marcel Proust und Konsorten dulden. Am besten nach Farben geordnet. Wie sympathisch ist es dagegen, wenn direkt neben Goethes »Faust« eine zerlesene Ausgabe von »Hanni und Nanni« steht! Vielen ist so etwas peinlich, also landen unsere Jugendsünden im Keller, oder noch schlimmer: im Altpapier.

Ganz ähnlich verhält es sich mit dem ominösen »Lieblingsbuch«, zu dem man in unzähligen Fragebögen Auskunft geben soll. Offenbar muss jeder auf Kommando ein Lieblingslied, einen Lieblingsfilm und ein Lieblingsbuch parat haben. Gleich nach der Lieblingsfarbe und der Lieblingsjahreszeit. Natürlich möchte man einen guten Eindruck machen, also gibt man eher »Die Liebe in den Zeiten der Cholera« an, statt »Jerry Cotton: Süßer Tod und kalte Leichen« (Sonder-Edition 43). Viele von uns wären jedoch nie auf Gabriel García Márquez gestoßen, wenn sie nicht mit dem G-Man angefangen hätten. Was ist also ein Lieblingsbuch? Ein Buch, das man bewundert oder ein Buch, das man heiß und innig liebt?

Ein Lieblingsbuch sollte uns idealerweise durchs ganze Leben begleiten. Ein Buch, das man immer wieder zur Hand nehmen kann und das uns in jeder Phase unserer Existenz etwas Neues vermittelt. Zumindest ist das die Theorie. Vielleicht ist das Lieblingsbuch auch nur ein Wälzer, der uns irgendwann einfach umgehauen hat. In diesem Fall hätte ich gleich mehrere Vorschläge.

»Die faule Maus« und »Puff-pata-puff«

Eines meiner schönsten Leseerlebnisse hatte ich im zarten Alter von sieben Jahren. Es war ein Titel, der heute vollkommen zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist. Selbst bei amazon ist kein Exemplar lieferbar. Es handelt sich um »Die faule Maus« von Marjorie Flack und Cyndy Szekeres. »Die faule Maus« schaffte es spielend, meine bisherigen Favoriten »Puff-pata-puff« und »Das kleine alte Auto« in den Schatten zu stellen. Besonders toll fand ich die Illustrationen, auf denen man detailliert die Behausung der Mäusefamilie studieren konnte. Und auch eine Botschaft gab es. Klar, dass die faule Maus spätestens auf der letzten Seite dem Lotterleben entsagte, um das ihrige zum Bruttosozialprodukt beizutragen. In jeder Hinsicht ein prägendes Leseerlebnis.

In meiner Grundschulzeit waren Bilder mindestens so wichtig, wie die Geschichte, die erzählt wurde. Daher kam das nächste große Leseerlebnis in Form einer Ausgabe der »Fantastischen Vier« (Hit Comics, Nummer 238) von Stan Lee und John Buscema. Zugegebenermaßen kein Buch wie »Die faule Maus«, aber nicht minder prägend. »Jetzt kommt der Super-Geist« lautete der reißerische Titel der Hauptgeschichte. Als Zugabe gab es »Thor: Sklave des Zarrko, dem Mann von Morgen«, ebenfalls von Stan Lee, mit Zeichnungen von Jack Kirby. Es war der mittlere Teil einer längeren Fortsetzungsgeschichte, daher hatte ich nicht die geringste Ahnung, was zur Hölle vor sich ging. Dem Lesespaß tat das keinen Abbruch. Alles sah verdammt aufregend aus. Europäische Comichelden wie »Tim und Struppi« wirkten langweilig dagegen.

Obwohl ich damals stapelweise Comics verschlang, hatte ich es mit dem Lesen nicht so, denn »richtige« Bücher sahen zu sehr nach Arbeit aus. Jede Menge Buchstaben und keine Bilder. Zum Glück hatte ich eine große Schwester, die mir jeden Abend vorlas. Durch sie lernte ich Jules Verne, Karl May, P. L. Travers, Enid Blyton und Carolyn Keene (= ein sogenanntes Sammelpseudonym) kennen.

»Buk« wusste wie der Hase läuft

In der Pubertät begann die Zeit, in der ich meine Bücher selbst lesen musste. Den Anfang machten die Fantasy-Romane von Robert E. Howard, auf den ich durch seine Serie »Conan« stieß. Das Buch »Kull von Atlantis« (Terra Fantasy, Band 28) war mein erklärter Favorit, da es neben vieler Schlachten auch eine Menge philosophischer Ansätze gab. Kull, ein Außenseiter, war – wenn er nicht gerade jemanden den Schädel einschlug – ein introvertierter Grübler, ganz wie ich. Frauen waren entweder böse Hexen oder dekoratives Beiwerk. Hätte man mich damals nach meinen Lieblingsbuch gefragt, wäre meine Wahl klar gewesen. Auch wenn Howards Bücher von großgewachsenen harten Kerlen handelten, war er selbst ein pummeliges Muttersöhnchen, das sich im Alter von nur 30 Jahren eine Kugel in den Kopf schoss, als seine alte Dame im Sterben lag.

Vor einigen Jahren erfuhr ich, dass auch Michel Houellebecq ein großer Verehrer des Howardschen Œuvres ist. Gerade in Hinblick auf sein Frauenbild nicht uninteressant.

Wie jeder pubertierende Jüngling meiner Generation entdeckte ich irgendwann Charles Bukowski. »Buk« wusste wie der Hase läuft. Die Welt war so schlecht, dass sie nur im Vollrausch zu ertragen war, und etwas liebloser Sex war das Beste, was man von ihr zu erhoffen hatte. »Das Schlimmste kommt noch oder Fast eine Jugend« hielt ich damals für große Literatur. Zumindest ein paar Jahre lang. Heute macht mich Bukowski eher traurig. Er war ein Hochsensibler, dem von einer brutalen Umwelt jede Lebensfreude ausgetrieben wurde. Der Schriftsteller als geprügelter Hund.

Etwas anders war da »Der Fänger im Roggen«. Wahrscheinlich hätte ich J. D. Salingers Kult-Roman nie gelesen, wenn ihn nicht etliche Menschen, die ich respektierte, als ihr Lieblingsbuch angepriesen hätten. Ganz wie Bukowski war Salinger der Meinung, dass die Gesellschaft schlecht war. Allerdings von der Perspektive des gehobenen Bildungsbürgertums aus gesehen. Gerade als Jugendlicher fühlt man sich da verstanden. Nur leider erschöpft sich die Lebensweisheit der Autoren an diesem Punkt. Dass unsere Existenz kein Ponyhof ist und obendrein noch sinnlos erscheint, ist keine weltbewegende Erkenntnis.

Das Traurige ist: Je älter man wird, desto schwerer fällt es einen, sich für ein Buch zu begeistern. Und wenn doch, so ist die Begeisterung oft kurzlebig. Daher trifft man auf so etwas wie Lieblingsbücher wohl eher in der Jugend. »Garp und wie er die Welt sah« war ein weiterer Favorit meiner jungen Jahre. Auch Kurt Vonnegut hat mich eine ganze Weile schwer begeistert – besonders »Schlachthof 5«. Bis ich eines Tages die Originalfassung als Hörbuch in die Hände bekam und merkte, wie schlecht die deutsche Übersetzung ist. Zuletzt war Michael Chabons »Wonder Boys« fast so etwas wie ein Lieblingsbuch. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis es irgendwann abgelöst wird.

Zurück zu Astrid Lindgren

Es gibt allerdings auch Bücher, die nahezu perfekt sind und an denen selbst die Zeit sich den Zahn ausbeisst. Als ich vor einigen Jahren »Michel aus Lönneberga« aus dem Regal nahm, um kurz etwas nachzuschlagen, konnte ich es einfach nicht weglegen. Statt eines Absatzes las ich die ganze Geschichte, dann die nächste und schließlich das ganze Buch. Nur wenige Autoren schaffen das. Als Kind waren Michels Abenteuer nur ein paar nette Geschichten. Erst als Erwachsener kann man Astrid Lindgren richtig würdigen. Der sanfte Humor, die Ökonomie der Worte und Lindgrens tiefe Liebe zu den Menschen.

Die meisten Bücher verlieren mit den Jahren. Was gestern Kult war, ist heute oft naiv und unausgegoren. Diese kleinen Schönheitsfehler machen es mir unmöglich, mich auf ein Buch festzulegen. In meiner Bücherwand steht Astrid Lindgren neben Phillip Roth und Carl Barks neben Doris Lessing. Wenn ich auf die vielen Buchrücken blicke, sehe ich den langen Weg, den ich seit meiner Kindheit zurückgelegt habe. Ein Weg voller Irrungen und Wirrungen. Einige Bücher waren mir wichtig, während andere schnell weggelesen wurden. Nur die ganz peinlichen Titel fehlen, denn die liegen (natürlich) im Keller.

Foto: Ryan McGuire, Gratisography