William Gibson. Dem an Gegenwartsliteratur interessierten Leser sicher kein Unbekannter. William Gibson. Der Schriftsteller, der im Jahre 1984 der Science Fiction eine Grabrede halten wollte und damit nichts Geringeres vollbrachte, als dem Genre völlig neue Perspektiven zu eröffnen.
Mit seinem »Neuromancer« hat er nicht nur der phantastischen Literatur neue Horizonte eröffnet, er hat auch eine ganze Reihe Begriffe geprägt, derer wir uns heute alltäglich zu bedienen wissen. Cyberspace wäre das Wort der Moderne, das in »Neuromancer« erstmals konzeptuell ausformuliert wurde. Wobei – Ehre wem Ehre gebührt – eine erste Konzeption unter anderer Bezeichnung findet sich schon 20 Jahre früher in »Summa Technologiae« des großartigen Stanislaw Lem.
William Gibson. Schreibt er eigentlich noch SF? Nein, nicht wirklich. Er ist mit seinem neunten Buch mitten in der Gegenwartskritik angekommen. Schon der Vorläufer »Mustererkennung« spielte nicht mehr in der irritierenden Gibson’schen Zukunftsvision, sondern auf der Übergangslinie von Gegenwart zu Zukunft, dem frühen 21. Jahrhundert. Heute. Und ebenso wie in »Mustererkennung« sind auch in »Quellcode« internationaler Terrorismus, die Anschläge vom elften September 2001 und das daraus resultierende amerikanische Trauma sowie die Kriege, die in der Folge geführt wurden, die Hintergrundmotive für das Geschehen. Wobei Gibson seinem technologischen Schreibstil durchaus treu bleibt, seine Charakterentwicklung nach wie vor superb ist.
Streckenweise hat man in seinem neuen Buch das Gefühl, er arbeitet einige Schlagworte ab, die er einfach in seinem Buch haben musste. Wer sich im aktuellen Internet nicht heimisch fühlt, wird es unter Umständen als eine Aufgabe empfinden, nachzurecherchieren, was sich hinter dem einen oder anderen Schlagwort verbirgt. Wer im aktuellen Cyberspace zuhause ist, wird sich allerdings an vielen Stellen fragen, warum das jetzt eigentlich sein musste oder ob da nicht besser eine etwas aktuellere Technologie hätte erwähnt werden müssen. Nicht von ungefähr hört man immer wieder, dass Gibson mittlerweile über die Vergangenheit schreibt, weil sich daraus mehr lernen lässt.
Im Buch treffen wir einen alten Bekannten aus »Mustererkennung« wieder, Hubertus Bigend, den Gründer der Agentur Blue Ant für virales Marketing. Er ist der Auftraggeber für die Protagonistin des Romans, die ehemalige Sängerin der Kultband »The Curfew«, Hollis Henry. Sie soll für ein Magazin, das Bigend bald herausgeben möchte, über eine moderne Kunstform schreiben, Locative Art. Diese Kunstform ist tatsächlich auch das einzig Visionäre an Gibsons Buch: Kunst im virtuellen Raum, in lokalen Netzwerken verortet, die vom Betrachter nur mittels eines Virtual-Reality-Helmes mit GPS-Funktion betrachtet werden kann. Die Idee dazu entwickelt Gibson aus Locative Media, ein banales Beispiel hierfür wäre ein Navigationssystem, das immer aktuell über Staus und Baustellen bescheid weiß, und noch dazu Touristeninformation zu Hotels oder ähnlichem wiedergeben kann. Der Punkt, den Gibson hier findet, ist Tenor in seinem neuen Buch: Cyberspace ist überall.
Aber Locative Art ist nur der Einstieg in Gibsons Buch, für den Leser ebenso wie für Hollis Henry. Gibson baut neben dem Erzählstrang um die Sängerin noch zwei weitere Stränge auf: Einer dreht sich um den Junkie Milgrim, der von dem dubiosen Geheimdienstmann Brown festgehalten wird, und in dem immer ein wenig unklar bleibt, ob die Arbeit des Herrn Brown so legal ist, wie er tut. Und ein weiterer um den jungen Tito, Mitglied einer Mafia-Familienorganisation kubanisch-chinesischer Einwanderer, ebenfalls mit Geheimdiensthintergrund.
Diese Erzählstränge verweben sich mehr und mehr während des Romans, wobei wirklich lange nicht klar ist, um was es denn nun eigentlich geht. Klar ist, hinter der für Locative Art genutzten Technologie steckt deutlich mehr. Unklar ist, was und wer dahinter steckt. Klar ist: Man kann einen iPod für deutlich mehr benutzen als zum Musik hören. Motive bleiben ebenso unklar und diffus wie Hintermänner – und das ist Gibsons zweiter Punkt: Die Moderne ist eine bedrohliche, unklare und überwachte Welt.
Um was die ganze Geschichte sich dreht, soll auch hier nicht verraten werden, und für alle, die dieses Buch mit Spannung lesen möchten, noch ein wichtiger Tipp: Lesen sie auf keinen Fall den Klappentext.
Gibsons Quellcode ist kein bahnbrechendes Buch. Aber es ist ein ausgezeichnetes Buch, das mit den Motiven unserer vernetzen Gegenwart spielt wie kein anderes, wie es wohl auch kein anderer Autor kann. Wenn Sie jetzt neugierig geworden sind, dann tun sie doch etwas, was auch Gibsons Akteure dauernd tun: Googeln sie es, vielleicht bestellen Sie es sich in einem Online-Shop, Sie können sich auch ein langes Interview mit William Gibson, geführt von Gerd Scobel, auf den Webseiten von 3sat anschauen.
Unter Umständen benutzen Sie dazu ein ungesichertes WLAN aus der Nachbarschaft. Dann sind sie schon fast da: in Gibsons »Quellcode«.
William Gibson: Quellcode | Deutsch von Stefanie Schaeffler
Klett-Cotta 2008 | 450 Seiten | Jetzt bestellen