Tom Wolfe: Ein ganzer KerlConrads Augen richteten sich auf das Allerunwichtigste: Kennys blassblondes Haar, nass, strähnig, angeklatscht; es wurde am Wirbel bereits mächtig dünn. Mit einem Mal sah der unbezähmbare Crash’n’burner sehr schwach und müde aus. Kenny hob den Kopf und versuchte, seine Tränen mit der Hand und dann mit dem Unterarm wegzuwischen, er zwang sich zu einem Lächeln. »Siehste? Ich hatte Recht, stimmt’s, Alter? Sie lassen’s dich einfach nicht machen. Und du hattest Recht. Du hast gesagt, ich hätte Nein! in meinem Herzen. Und das ist die Wahrheit. Ich habe Nein! in meinem Herzen.« Er umschloss seinen Hals mit dem Zeigefinger und dem Daumen. »Mir steht’s bis hier … die ganze Scheiße von dem eingefahrenen Gleis zu schlecken, in dem sie dich kriechen lassen.«

Weg vom »Fegefeuer der Eitelkeiten« des New York in den Achtzigern, hinein ins Atlanta der Neunziger führt Tom Wolfe den Leser mit seinem Roman »Ein ganzer Kerl«. Wolfe zeichnet darin ein Sittenbild, welches nahe an der Wirklichkeit der Südstaatenmetropole angelehnt sein soll. Seine ungewöhnlichen und extrem verschiedenen Hauptfiguren haben die Gemeinsamkeit, dass sie alle von den gesellschaftlichen Verhältnissen im Großraum Georgia geprägt wurden.

Der Leser begibt sich in den tiefen Süden der USA, wo Rassenkonflikte aufgrund der Geschichte der Südstaaten immer noch ein großes Thema sind. Er thematisiert aber nicht nur den Rassenkonflikt, sondern die extremen sozialen Unterschiede generell und wirft ein grelles Licht auf ein weißes Establishment, dessen strenge alte Normen kosmopolitischen Bestrebungen entgegen stehen.

Die deutsche Übersetzung von »A Man In Full« von Benjamin Schwarz wird von der Zeitschrift LeseZeichen so gewürdigt: Vor allem seine Kunst, den Südstaatenslang in vielen schwarzen und weißen Spielarten kongenial verständlich zu machen, einzelne Worte oder ganze Sätze durch eine hinzugefügte unauffällige Definition zu verdeutlichen, trägt erheblich zum Lesevergnügen wie zum Begreifen von Feinheiten des Textes bei. Was da in Atlanta und auf dem Lande gesprochen wird, hat mit Washingtoner Amerikanisch wenig und mit Oxford-Englisch kaum noch etwas zu tun. Auch dies gehört zum Griff ins pralle Leben der Südstaaten.

Der mächtige Immobilienhai und Südstaatenmacho Charlie Croker hat sich mit dem eitlen Projekt, eine Trabantenstadt zu bauen, die seinen Namen trägt, verspekuliert und steht kurz vor dem geschäftlichen und gesellschaftlichem Aus. Der ausgefuchste schwarze Bürgermeister der Stadt Atlanta setzt den schwarzen Anwalt Roger Too White auf ihn an. Dieser soll Charlie dazu überreden, in einer hochbrisanten Angelegenheit gegen seinen Kumpel und ebenso mächtigen Geschäftsmann Inman Armholster öffentlich Stellung zu beziehen.

Als Gegenleistung verspricht man Charlie, seine völlige Enteignung durch die Planners Bank zu verhindern. Das allerdings widerstrebt den Interessen des neiderfüllten, mittleren Bankangestelten Ray Peepgass. Peepgass, der mit allen Mitteln versuchen will, persönlichen Profit aus der Konkursmasse der Croker Immobilien zu schlagen, macht sich an Crokers Ex-Frau heran, und versucht sie zu überreden sich seinem Syndikat gegen Croker anzuschließen.

Zunächst besinnt Charlie Croker sich seiner urwüchsigen Kraft und beschließt den Personalabbau in einer seiner Nebenfirmen. Das betrifft insbesondere den 23-jährigen Familienvater Conrad Hensley, dem aufgrund seiner Entlassung eine Kette von Unglücken widerfährt. Conrad landet in einer wahren Knasthölle und gründet seine letzte Hoffnung auf ein Buch über die Stoiker, das ihm zufällig in die Hände fällt. Als Conrad auf schicksalhafte Weise aus dem Gefängnis entkommt, beginnen die Fäden zusammenzulaufen.

Tom Wolfe ist ein Fan der Zeichnungen aus der Satirezeitschrift »Simplicissimus«, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts erschien. Was Wolfe an diesen Zeichnungen liebt, ist der messerscharfe Humor. Er selbst besitzt diesen Humor und setzt ihn in »Ein ganzer Kerl« oft und hervorragend ein. Seine geniale Beobachtungsabe spiegelt sich in den detaillierten Beschreibungen wider, seine Sprache besitzt eine große Suggestivkraft. Zurecht wird das Buch deshalb als Sprachereignis gefeiert.

Tom Wolfe gilt als konservativ. Wenn man genau hinschaut, macht sich dies am ehesten bei der augenzwinkernden Schilderung bemerkbar, wie Conrad und Croker es über die Erkenntnisse der Stoiker schaffen, ihr Los zu akzeptieren und somit »frei« zu werden. Trotzdem hatte ich beim Lesen überhaupt nicht den Eindruck, dass das Buch einseitig ist. Einige Längen und das relativ abrupte Ende stören ein wenig, fallen jedoch bei dem großen Lesevergnügen, das dieses Buch bereitet, nicht ins Gewicht.

Tom Wolfe: Ein ganzer Kerl | Deutsch von Benjamin Schwarz
Kindler 1999 | 920 Seiten | Jetzt bestellen