Dai Sijie: Balzac und die kleine chinesische Schneiderin»Wir waren weder die ersten noch die letzten Versuchskaninchen dieses gewaltigen menschlichen Experiments.«

Dai Sijie erzählt in »Balzac und die kleine chinesische Schneiderin« die Geschichte zweier junger Chinesen, die während Maos Kulturrevolution als Kinder von »Intelektuellen« – und damit Volksfeinden – zur Umerziehung in abgelegene Bergdörfer geschickt werden.

Die erwartete Trostlosigkeit und die harte, undankbare Arbeit im Dorf werden für Luo und den Ich-Erzähler allerdings durch einen Koffer voll westlicher Literatur und der Schönheit der kleinen chinesischen Schneiderin, wie sie genannt wird, zum Abenteuer. Die Bücher behüten die jungen Männer wie einen Schatz und verschlingen sie wie hungrige Mäuler. Die Bücher haben aber noch eine andere Funktion: Durch sie will Luo die kleine chinesische Schneiderin weiterentwickeln und zu einer Frau machen, die auch intellektuell seinen Vorstellungen entspricht.

Letztlich kommt man der Erkenntnis nicht aus, dass auch Luo, der umerzogen werden sollte, seine kleine chinesische Schneiderin unbewusst umerziehen möchte. Sie selbst nimmt diese Möglichkeit mit Freude wahr und geht am Ende des Buches als selbstbewusste junge Frau hervor, die Luo und ihren Vater verlässt, um in eine große Stadt zu gehen. Denn Balzac, Luos Lieblingsautor, habe ihr etwas beigebracht: Durch Balzac habe sie begriffen, dass die Schönheit der Frau ein unbezahlbarer Schatz ist.

Die zärtlichen, wertschätzenden Worte über die Bücher in dem (von den beiden gestohlenen) Koffer wirken wie eine Liebeserklärung an fremdartige Literatur und sind ein flammendes Plädoyer für deren Bedeutung, Horizonte zu erweitern. Neben der Liebe zur Literatur und der Liebe an sich und deren Verwirrungen steht vor allem die individuelle Freiheit im Vordergrund. Fazit: Ein wunderschöner Roman, der uns in für uns fremde, magische Welten entführt.

Das Buch wurde als Gratisausgabe im Rahmen der jährlichen Initiative »Eine Stadt. Ein Buch.« im Jahr 2010 von der Stadt Wien ausgegeben und umfasst ein Interview mit dem Autor als auch seine Biographie.

Dai Sijie: Balzac und die kleine chinesische Schneiderin | Deutsch von Giò Waeckerlin Induni
Piper 2003 (23. Auflage) | 224 Seiten | Jetzt bestellen