Wer vor mehr als zehn Jahren voller Anteilnahme und Begeisterung Michaels ersten Roman »Fluchtstücke« gelesen und sich ob dieses Genusses ungeduldig auf einen zweiten Roman gefreut hat, ist durch »Wintergewölbe« mehr als nur entschädigt worden.
Elke Heidenreich sagte damals zu »Fluchtstücke«: »Ein kleines Wunder« und überschlug sich schier mit ihrem Lob für die Kunst der kanadischen Schriftstellerin. Zu Recht. Und um bei Elke Heidenreich zu bleiben: Im Stern hat sie über »Wintergewölbe« geschrieben: »Sehr still, sehr intensiv, sehr schön.« Intensiv und dicht ist die Erzählweise von Anne Michaels, ihre Sprache hoch poetisch und in ihren Facetten geschliffen. Fast meint man spüren zu können, warum zehn Jahre nötig waren, um diese schönen und eindringlichen Bilder sprachlich zu erschaffen und so wohl komponiert zu einem Roman zusammenzufügen.
Eben diese Dichte und Vielschichtigkeit der Erzählung sind es auch, die »Wintergewölbe« zu keinem einfachen Buch machen. Bedeutungsvoll sind die Bilder, die menschliche Existenz umfassend die Themen, die Michaels besprochen haben will. Liebe, Vergänglichkeit, Verlust, Leben und Sterben, Erinnern, Vergessen, die Frage, wie es denn danach weitergehen kann. Anne Michaels überblickt in ihrem Roman Jahrtausende der Menschheitsgeschichte, ihre Charaktere agieren über Kontinente. Kein einfaches Buch. Wohl aber ein eindrucksvolles.
Aber um was dreht sich denn nun die Handlung, die all dies abzudecken vermag? Michaels bietet erneut eine epische Erzählung, die die Macht der Liebe postuliert. Kennen gelernt haben sich Avery und Jean in der kanadischen Natur bzw. in der Natur, die nach der Schiffbarmachung des St. Lorenz Stromes noch übrig war.
Im trockengelegten, alten Flussbett begegnen sie sich. Avery, der Ingenieur betrachtet die Zerstörung, die er mit verursacht hat, Jean sammelt letzte Zeugnisse einer verschwindenden Natur. Gemeinsam gehen sie nach Afrika, Avery ist dort verantwortlich für die Versetzung des Tempels Abu Simbel, der infolge des Assuan Staudammes sonst im Stausee verschwinden würde. Wir befinden uns im Jahre 1964. Nach der Zerstörung in Kanada hat Avery die Hoffnung auf Wiedergutmachung, darauf, hier etwas retten zu können.
Jean und Avery verbindet ein gemeinsames Thema, die Zerstörung der Natur durch den Menschen. Und es wird klar, einen Tempel zu versetzen, das macht den Verrat und die Gewalt gegen die Menschen und ihre Geschichte nicht ungeschehen. Es ist Augenwischerei. Jean, die schwanger ist, verliert ihr Kind, bald darauf verlieren sich Avery und Jean. Die Beziehung zerbricht.
Der Roman folgt Jean, wie sie sich in Toronto in Lucjan verliebt, einen Überlebenden des Warschauer Ghettos. Er gibt ihr nach und nach Perspektive zurück, verkörpert in der Erzählung ein Motiv des Wiederkehrens. Der Titel des Buches, eine von vielen Metaphern, wird von Lucjan erklärt: Ein Wintergewölbe ist ein Bauwerk, um die Toten zu beherbergen, so lange der Boden zu hart gefroren ist, um sie zu begraben.
Anne Michaels: Wintergewölbe | Deutsch von Gerhard Falkner und Nora Matocza
Berlin Verlag 2009 | 349 Seiten | Jetzt bestellen