Zeruya Shalev: Liebesleben»… und ich überlegte, wie man wohl sein Leben verbringt, wenn man einen anderen Mann liebt und weiß, dass es hoffnungslos ist, nicht wie ich, die hinter ihm herlief und ihm auflauerte, sondern wie sie, ohne etwas zu tun, von einem Tag zum anderen lebend, ohne jede Spur von Hoffnung, an der man sich festhalten konnte, und ich sah die schreckliche Leere ihres Lebens, schließlich kommt immer ein Moment, wo man weiß, dass sich nichts ändern wird, ich konnte spüren, wie dieser Moment näher rückte, auf mich zu, der Moment, in dem ich nicht mehr sagen könnte, einmal wird es einen Mann geben, den ich lieben werde, einmal werde ich voller Liebe sein, der Moment, in dem man weiß, dass es in dieser Inkarnation keine Wandlung zum Guten geben wird, in dem man sich sagt, das ist alles, mehr oder weniger, und dann wird alles blass und verschwommen, verliert mit einem Mal seinen Geschmack und seine Farbe, und das Leben ist nackt, schämt sich seiner Nacktheit, und eigentlich möchte man gleich sterben, dann will man weinen, und schließlich sagt man, wenn es nur nicht schlimmer wird.«

Ja’ara verliebt sich in Arie, einen Studienfreund ihres Vaters. Es ist ein sehr seltsames Liebesverhältnis, und das nicht nur, weil Arie sehr viel älter und erfahrener ist als sie. Ja’ara verliebt sich sehr plötzlich, ohne Zwischenschritte oder Abstufungen, sie scheint unfähig, etwas dagegen zu tun oder sich zu beherrschen, obwohl sie, genauso wie Arie, verheiratet ist. Arie erwidert ihre Liebe keineswegs, er ermutigt Ja’ara nicht, er ist nicht einmal nett zu ihr – ganz im Gegenteil. Was genau ihn mit Ja’aras Eltern verbindet, will ich hier nicht vorwegnehmen, doch selbst dieses Wissen, als Ja’ara es nach und nach erfährt, trägt nichts dazu bei, dass sie sich aus dem ungesunden Verhältnis befreien würde, dem nicht nur ihre Ehe, sondern auch ihre Unikarriere zum Opfer fallen.

»Liebesleben« zieht den Leser sofort in Ja’aras Perspektive hinein und damit in einen Tunnelblick voller Unruhe, Gehetztsein und Unsicherheit, der sich in der Sprache spiegelt. Dass der Leser Ja’ara und ihrer Gefühlswelt sehr nahe kommt, verhindert jedoch nicht, dass er sieht, wie verstrickt sie in ihre Handlungszwänge ist. Doch wahrscheinlich erkennt sie ihre Zwänge selbst, was noch lange nicht heißt, dass sie sich daraus befreien kann. Arie sagt ihr das auch: »… ich glaube, dass jeder, der einen Fehler macht, das von vornherein weiß, er kann sich nur einfach nicht beherrschen. Die Überraschung liegt vielleicht in der Größe des Fehlers, aber nicht in der Tatsache seines Auftretens.«

Das Verhältnis zu Arie ist eigentlich nur ein Symptom, an dem nach außen und auch für Ja’ara selbst erst sichtbar wird, dass etwas mit ihrem Leben nicht stimmt – wenn ihr auch nicht ganz klar wird, was genau das ist. Ob sie es am Ende schafft, das Leben zu finden, das sie eigentlich führen will, ist offen. Weder kann man sicher sein, dass sie sich endgültig von Arie oder ihrem Ehemann getrennt hat, noch dass sie ihre Unikarriere gerettet hat – auch wenn sie die Nacht nicht mehr bei einem von ihnen verbringt, sondern mit einem Buch in der Bibliothek. Aber wenigstens bleibt sie mit der Erkenntnis zurück: »Dass du keinen Ort hast, wohin du gehen kannst, bedeutet noch lange nicht, dass du hierbleiben musst.«

Zeruya Shalev: Liebesleben | Deutsch von Mirjam Pressler
Berliner Taschenbuchverlag 2003 | 367 Seiten | Jetzt bestellen